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Der Schauspieler Laurent Binet.

© imago/ZUMA PRESS

„Eroberung“ von Laurent Binet: Sprechende Blätter

Laurent Binet schickt in seinem Roman „Eroberung“ die Inkas nach Europa.

Kaum zu glauben, dass der spanische Konquistador Francesco Pizarro 1532 mit knapp 200 Soldaten das gewaltige Inka-Reich mit seinen sechs Millionen Einwohnern im heutigen Peru im Handumdrehen eroberte und den mächtigen Inkakönig Atahualpa besiegte und hinrichten ließ. Damit begann die ungebremste Ausplünderung des südamerikanischen Kontinents, die einen schier unendlichen Strom von Gold und Silber nach Spanien fließen ließ.

Der französische Schriftsteller Laurent Binet erzählt diese ungeheuerliche Geschichte in seinem Roman „Eroberung“ jetzt kontrafaktisch, und zwar mit Bravour. „Geschichte berichtet, wie es gewesen. Erzählung spielt eine Möglichkeit durch“, schreibt Alfred Andersch zu Anfang seines Romans „Winterspelt“. Nach genau diesem Prinzip verfährt Binet. Mit zwei Prologen schafft er die Voraussetzungen für die Eroberung Europas durch die Inkas.

Im ersten erzählt er die „Saga von Freydis Eriksdottir“, und zwar wie die Tochter von Erik dem Roten viel weiter nach Süden reiste als in Wirklichkeit. Durch sie gelangen Eisen, Pferde und tödliche Bakterien zu den Völkern des Südens. Im zweiten Prolog spinnt Binet das Tagebuch des Kolumbus fort, und lässt ihn und seine Mannschaft im Chaos untergehen. Aber Higuenamota, die Tochter der Taino-Königin auf Kuba, die Zeugin der Eroberung ihres Reiches wird, lernt aus den Gesprächen mit Kolumbus am Hof Kastellanisch, was später wichtig werden wird.

Mit dem Eisen, den Pferden der Wikinger und den Sprachkenntnissen Higuenamotas legt Binet die Grundlagen für die Umkehrung der Geschichte. In den erfundenen „Atahualpa-Chroniken“ erzählt er, wie der letzte Inka-König Atahualpa von Peru über Kuba gen Osten floh. Dabei nutzte er für seine Reise ins Ungewisse die instand gesetzten Schiffe, die von der Kolumbus-Mission vierzig Jahre zuvor zurückgeblieben waren. So landet der Inka-König Atahualpa mit rund 200 Mann und Higuenamota in Lissabon, wo gerade ein Erdbeben die Stadt verwüstet hatte.

„Sie hatten das Land der aufgehenden Sonne, den Orient erreicht.“ Sie finden Zuflucht bei den Mönchen eines Klosters, die neugierig und entsetzt reagieren, denn Higuenamota trägt nur Armbänder und einen Halsschmuck, sonst nichts. Bücher erscheinen den neugierigen Inkas als „sprechende Blätter“, und das schwarze Gebräu (Rotwein) scheint ihnen zu schmecken.

Binets Weltsicht trägt satirische Züge

Bei Binet erscheinen die Inkas als die Zivilisierten. Für sie sind die Orientalen (=Europäer) die weniger Zivilisierten, die merkwürdigerweise einem „angenagelten Gott“ huldigen, was sie nicht wirklich verstehen. Als die portugiesische Königin Kastellanisch mit Higuenamota spricht, ist das Eis gebrochen und die Kommunikation kommt in Gang.

Die Inkas erkunden den fünften Teil ihres vierteiligen Weltreiches. Der stete Zufluss von Gold und Silber aus Peru sichert die Existenz Atahualpas, der die Anliegen der unterdrückten Minderheiten, der Morisken und der Juden versteht, die Inquisition abschafft und sich auf die Seite der Bauern in den Bauernkriegen stellt. Er löst Karl V. ab und wird in Aachen zum Kaiser gekrönt. Der Sonnenglauben breitet sich aus in Europa, Europäer tragen Federschmuck und Heinrich VIII. von England lässt sich bekehren, weil Polygamie jetzt erlaubt ist.

[Laurent Binet:  Eroberung. Roman. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 381 Seiten, 24 €.]

Binets Weltsicht trägt teilweise satirische Züge; es macht Spaß, die europäische Geschichte mit den Augen des Inkas zu sehen. Mit Luther legt sich Atahualpa wegen dessen Antisemitismus an und lässt die 95 Thesen des Sonnengottes in Wittenberg an die Kirchentür nageln. Binet erzählt seine alternativen Fakten sehr glaubhaft. Alle handelnden Personen gab es, nur spielen sie jetzt andere Rollen. Es lohnt sich, die Namen nachzuschlagen, auch die der Inkas.

Geschichte im Konjunktiv ist ein Lesevergnügen, das manch’ Vertrautes in Frage stellt und zur Stellungnahme zwingt. Binet verlässt sich auf die Macht seiner Fakten, er klagt nicht an, sondern erzählt brillant.

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