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Bosnische Muslimas beten  vor Särgen von Opfern des Massakers von Srebrenica, die in einer Gedenkstätte aufgestellt wurden, 2012.

© Amel Emric/dpa

Erinnerung, Identität, Nation: Unsere Leute und ihr selektives Gedenken

Cyrill Stieger veröffentlicht mit „Die Macht des Ethnischen“ eine sehr aktuelle Studie zur Identitätspolitik in Südosteuropa. Die Kolumne Flugschriften.

Von Caroline Fetscher

Caroline Fetscher schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Sachbücher. Nächste Woche: Gerrit Bartels über den Literaturbetrieb.

Alternative Fakten sind keine Erfindung von Donald Trumps Pressesprecherin. Sie hat nur die Tatsache, dass konkurrierende Darstellungen für sich jeweils faktische Geltung verlangen können, auf diese griffige Formel gebracht. Erstaunlich daran war die Kaltschnäuzigkeit, mit der sie auf den irreführenden Effekt der Formel vertraute.

Ihr habt eure Wahrheit, wir unsere – das führt schnell zum Spiel mit dem Feuer. Wo Verständigung eine solide Datenbasis braucht, können „alternative Fakten“ verstörend bis zerstörerisch sein, derzeit zu beobachten an der Wucht der Querdenkerei. Mindestens so entfremdend wirken konträre Auffassungen von Geschichte, an denen sich erst recht das destruktive Potential eines identitätspolitischen Relativismus zeigt, der Wirklichkeit überwölben kann.

Kundig zeichnet Cyrill Stieger, langjähriger Südosteuropa-Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“, entsprechende Spannungslinien für die Staaten Ex-Jugoslawiens nach. („Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem Balkan“. Rotpunkt Verlag, Zürich, 224 S., 24 €.). Zu Recht gilt der Slawist, Jahrgang 1950, als einer der besten Kenner der Region. Die Ernte seiner Erfahrungen ist aufrüttelnd, nicht zuletzt, da in Bosniens Serbenrepublik gerade jetzt erneut ethnische Abspaltung propagiert wird.

Dreißig Jahre nach Beginn der jugoslawischen Zerfallskriege wirken die nationalistischen Deutungen der einstigen Gegner fort, etwa im ostkroatischen Vukovar, das Stieger, neben dem kosovarischen Mitrovica, zentral in den Blick nimmt. Große Teile der serbischen, kroatischen und bosniakischen Bevölkerung hegen, so Stieger, miteinander „unvereinbare Geschichtsbilder“. An Schulen werden daher je andere Bücher im Geschichtsunterricht verwendet, je andere Opfer- oder Tätergeschichten erzählt – Mythos dominiert über Logos, Wunschfantasie über Wirklichkeit. Im bosnischen Modell „Zwei Schulen unter einem Dach“ existiert offen ethnische Segregation. Trennungen in katholische Kroaten, christlich-orthodoxe Serben oder muslimische Bosniaken greifen teils bereits im Kindergarten.

Ein multiperspektivischer Ansatz

Ostentativ lesen serbische Nationalisten Zeitungen mit Cirilica, mit kyrillischen Buchstaben, anstatt mit lateinischen, mit Latinica. Mit Verve werden jeweils „naši ljudi“ beschworen, „unsere Leute“. Er ist einer von uns, „on je naš“, das heißt so viel wie: Dem kann ich vertrauen. Nach dem Naš-Schema wird in Bosnien gewählt. Nach dem Naš-Schema wurden überall in Ex-Jugoslawien die Den Haager UN-Prozesse gegen Kriegsverbrecher bewertet.

„Selektives Gedenken“ beklagt Stieger, der mit multiperspektivischem Ansatz denkt und schreibt und auch die kleinen sozialen Wunder oder pragmatischen Kompromisse skizziert, dort, wo sich ethnische Grenzen lockern und lösen, und Zukunft vorstellbarer wird. So etwa im Ort Brcko, wo die von Stieger befragten Lehrer sich dem Irrsinn ethnisch geteilter Schule verweigern. Nicht nur der neuen Außenministerin sei die Lektüre dieses Buches dringend empfohlen.

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