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Mit Kerstin Drechsel ging die Galerie an den Start. Nun zeigt sie ein Bild, auf dem sich vor einem Bett die Büchen und Kannen türmen (Ausschnitt).

© Galerie, VG Bildkunst Bonn 2020

Erinnerung an eine besondere Galerie: Sieben Jahre lang bestand „September“ und schuf eine Fan-Gemeinde

Melancholische Gefühle: „Remember September“ versammelt noch einmal alle Künstler, die Oliver Koerner von Gustorf zeigte.

Hier wird Privatsphäre verletzt, und doch ist es ein einfühlsames, menschenfreundliches Bild. Schon in mehreren Serien hat Kerstin Drechsel in ihrem wunderbar lässigen, dabei immer eindringlichen Malstil Details in Wohnräumen festgehalten, die einen in die Intimität eines Fremden führen.

So zeigt Drechsel in ihrem großen, in der Zwinger Galerie ausgestellten Gemälde, wie sich Bücher vor einem Bett türmen, eine ganze Armada von Teekannen auf dem Boden ausgebreitet ist, Bücher sich stapeln und auch sonst noch alles mögliche neben dem Bett herumsteht. Der Mensch, der in dieser Kumulation lebt, ist nicht zu sehen, aber unwillkürlich beginnt man über ihn nachzudenken. Das 2,20 Meter hohe Bild kostet 13 000 Euro.

Die erste Station der Galerie war nahe dem Checkpoint Charlie

„Die fließenden Grenzen zwischen selbst geschaffenen Ordnungssystemen, obsessivem Sammeln und schleichender Verwahrlosung finden auf Kerstins Gemälden Ihre formale Analogie im Oszillieren zwischen Gegenständlichkeit und der malerischen Auflösung in der Abstraktion.“ Ausnahmsweise sei einmal der Pressetext zitiert, denn er ist auch ein Selbstbekenntnis, zugleich eine kluge Analyse aller Werke.

Er stammt vom Kunstpublizisten und Kritiker Oliver Koerner, einer der beiden Kuratoren, die die Ausstellung eingerichtet und sich dabei auch selbst thematisiert haben. Im Oktober 2007 eröffneten Koerner von Gustorf und Frank Müller nahe dem Checkpoint Charlie, die Galerie September. Woody Allens gleichnamiger Film von 1987 stand Pate, die erste Ausstellung galt Kerstin Drechsel.

Es gab in Berlin in den Zweitausenderjahren genügend Kunstorte, an denen der Puls dieser heute gern verklärten, aber doch tatsächlich auch aufregenden Transformationszeit zu spüren war. Nicht wenige der Galerien und Projekträume sind vergessen, andere stiegen zu erfolgreichen Akteuren am globalen Kunstmarkt auf.

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Wenn man nur einen Berliner Ort der Kunst aus diesen Jahren nennen sollte, der mit seinen überraschenden Anregungen zugleich prickelnd, warmherzig und integer war, nah an den Strömungen der Zeit, der auf lässig-intelligente Weise das verkörperte, was Susan Sontag „Camp“ nannte, der eine spezifische, seit den Achtzigern bestehende Szene der Gegenkultur versammelte, ohne in ein Retro-Gefühl zu verfallen, sondern das gemeinsam Erlebte zu aktuellen Fragen im Jetzt führte, und wo vor allem ungeheuer tolle Kunst zu sehen war – dann ist das auf jeden Fall September.

Profit stand nie im Vordergrund

Nach Müllers Ausstieg führte Koerner das Programm allein weiter. Natürlich sollte verkauft werden und man nahm an Messen von Köln bis Madrid teil, aber der Profit stand hier nicht im Vordergrund. Dass er nie einen dauerhaften Überschuss erzielte, war einer der Gründe, weshalb Koerner im Juni 2014 den Ausstellungsbetrieb schloss, aber nicht der einzige. September war immer wie eine große Familie, der stets vor Ideen sprühende Padrone als Kraftzentrum, Ideengeber, Antreiber und oft sehr kritische, aber immer aufbauende Instanz für die Künstler, genauso wie für den großen, ständig wachsenden Freundeskreis der Galerie.

Am Ende – und nach zwei Umzügen, weil die Mieten stiegen – wollte Koerner nicht mehr. Er ist ein charismatischer Entdecker, Vermittler und Erklärer von Kunst, aber das Verkaufen, die Machtspiele am Markt und all der Sozialglamour mit den Sammlern war nicht seine Sache. Nun widmete er sich lieber seinen kunstschriftstellerischen Projekten.

Die Fans von damals pilgern nun zur Erinnerungsausstellung

Für die September-Fans – der Verfasser bekennt sich als einer von ihnen – sind diese sieben Jahre unvergesslich. Darum pilgern sie jetzt in die Ausstellung „Remember September“ bei Zwinger. Sie ist keine nostalgische Verklärung, sondern zeigt mit aktuellen Arbeiten, wo die Künstler heute stehen. Etwa Ogar Grafe, mit dem Koerner von Gustorf in den späten Achtzigern als Künstlerduo „Louvreboutique“ Kostüme, Textilartefakte und dadaistische Kommentare zur Mode schuf: In monatelanger Arbeit überzog Grafe in blauem Filzstift eine Art schamanisches Priestergewand mit blauweißem Schriftornament. Auch eine Kissenmaske gehört zu der skulpturalen, wie eine Figurine inszenierten Arbeit. Das „Superspreaderspiritsuit“ (3500 Euro) bezieht sich auf Corona, die Botschaften von Verschwörungsgläubigen und Spiritistenfraktionen, um ihnen einen „Gegenzauber“, wie es Koerner formuliert, entgegenzustellen.

Textile Werke, Keramik, Basteleien und Aufgriffe des Kunsthandwerklichen sind heute ein großes Thema in der Kunst. Koerner war einer der ersten, der dies erkannte und schon 2009 die wegweisende, höchst originelle Ausstellung „New Omega Workshops“ organisierte. Mit Bezug auf Roger Frys Londoner Omega Workshops (1913–1919) übersprang er die Grenzen von bildender und angewandter Kunst und entwickelte daraus (im Gegensatz zum eher elitären Fry) die Idee einer „demokratischen Volkskunst“, die es jedem erlaubt, sich jenseits aller Hierarchien des Kunstbetriebs nach seinen Interessen und Fähigkeiten auszudrücken. In diesem Sinn hat der September-Mitgründer Frank Müller jetzt zur Schau bei Zwinger die akribische Schottenmusterstickerei für einen Hockerpolster beigesteuert, an der er Monate arbeitete und die ihm als Kontemplation in einer chronischen Krankheit diente (unverkäuflich).

Carsten Fock überträgt das gute alte Informel in die Gegenwart

Ein Künstler, mit dem Koerner intensiv arbeitete, ist Carsten Fock. Er lässt seine Farbstriche wie Eisenspäne unter Magnetkraft flirren und hat es immer wieder neu geschafft, das gute alte Informel in eine durch und durch heutige Reinkarnation zu führen. Seine Pyramidenkomposition in südlich glühenden Farben ist für 3000 Euro zu haben.

Die Wiederbelebung der gestischen Malerei in einem konzeptuellen Kontext war ohnehin in der Galerie mehrfach ein Thema. Henry Kleine, eine von Koerners Entdeckungen, scannt und bearbeitet neuerdings seine subtilen Schlieren, die immer auf eine kaum beschreibbare Weise intensiv und pointiert wirken, und druckt sie dann aus (870 Euro). Hier trifft er sich mit Ursula Döbereiner, die schon früh am Computer urbane Szenarien sezierte und manipulierte. Mittlerweile sucht sie mit dem Handscanner nach unperfekten Stellen, aus denen „malerische“ Drucke von großer Schönheit entstehen.

[Zwinger Galerie, Mansteinstr. 5, bis 19. Dezember, Di–Sa 12–18 Uhr]

Auch diese Künstler dürfen beim Rückblick auf September nicht fehlen: Marc Brandenburg, der mit einem fast zwei Meter breiten, stählern schimmernden Fan-Armband für Metallica in eine neue Dimension seiner Zeichenkunst vorstößt (55 600 Euro), Bettina Allamoda mit ihrer psychologisch aufgeladenen Skulptur aus Eisenrohr und bis zum Zerreißen gespannten Polyesterstoff (14 000 Euro), und Sabina Maria van der Linden, West-Berliner Undergroundstar der Achtziger und jetzt mit Druckeditionen von ebenso ornamentalen wie sexuellen Motiven präsent (230 Euro). Die Preise zeigen, dass für jeden etwas dabei ist.

Die Frage steht im Raum: Wo gibt es noch solche Orte?

Ein gewisser Chic der Inszenierung mit viel Wandfarbe gehörte bei September immer dazu, das war Teil des Lebensstils. Und jetzt haben Müller und Koerner mit poppigem Orange und der Auswahl der Werke alles getan, um nicht in den alten Zeiten zu schwelgen. Trotzdem geht man bei aller Freude über diese Ausstellung auch mit einiger Melancholie nach Hause. Wo steht Berlin heute, wenn solche Orte wie September Vergangenheit sind?

Sebastian Preuss

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