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Erik Lindner.

© Gezett

Erik Lindners Gedichtband „Nach Akedia“: Sonnenlicht auf dem Anzug

Bei ihm gibt es keine Kausalität, dafür aber viele "kleine Irrtümer": Erik Lindner und sein neuer Gedichtband „Nach Akedia“.

Der niederländische Dichter Erik Lindner geht behutsam mit der Welt um. Er schiebt ihr keinen fertigen Entwurf unter, er erspart ihr die Last einer Idee. Er prahlt nicht mit Bildungswissen, wie er sich überhaupt zurücknimmt; nur selten begegnen wir einem lyrischen Ich. Geschieht es doch einmal, ist es schon in der nächsten Zeile wieder verschwunden: „ich steh auf, kleide mich wie gestern / und geh über den Steg zur Fähre // auf Autoreifen setzt sich Koralle ab / schuppig zwischen Steg und Bug“.

Lindner, 1968 in Den Haag geboren, führt seine Leser gerne in Küstenlandschaften. Sein Blick erinnert an eine Filmkamera, die vom Kleinen ins Große und zurück zoomt. Und manchmal scheint es, als wolle er das Verhaftetsein der Sprache in der Zeit überlisten.

Denn wir können nur einen Satz nach dem anderen lesen oder hören. Sobald mehrere Personen gleichzeitig sprechen, entsteht ein Kauderwelsch. Lindner indes möchte, so treten uns die Gedichte seines ersten, von Rosemarie Still übersetzten deutschsprachigen Bandes entgegen, dass alles zugleich stattfindet: „die Autobusse, die Pommesbuden, die Karaokebars, die Peripherie, die patroullierende Polizei, hölzerne Balkonbrüstungen, les traiteurs chinoises, die Arbeiten, die Sanierungen, die verrammelten Fenster, die weiß gestrichenen Schaufenster, die Steinkohleberge...“ So geht es, in einer langen Kaskade, noch eine Weile fort. Alles erscheint ihm gleich wichtig, wahrgenommen zu werden. „Du musst kalt sein / um etwas zu zeigen“, behaupten zwei Zeilen eines Gedichts, die als Credo verstanden werden können.

Lindner rüttelt seine Sätze durch

Gleich im ersten Gedicht seines Bandes „Nach Akedia“, das sich auf den Film „Un histoire de vent“ des niederländischen Dokumentarfilmers Joris Ivens bezieht, gibt es erst leichte Verschiebungen in der Satzkonstruktion, bald wird der Satzbau durchgerüttelt, als fege ein Sturm über die Seite hinweg. Am Ende schläft der Wind in einer Wüstenmulde, und der Filmemacher sitzt noch immer auf seinem Stuhl . Im zweiten Teil gehen die Gedichte teils unmerklich ins Surreale über, wenn sich etwa ein Fenster spaltbreit öffnet und „auf der Stelle“ ein Tisch zerbricht, „und der Tisch hat sich nicht ans Fenster / sondern neben mich gestellt / am Bein des Tisches / fällt die Decke vom Tisch...“

Ob Lindner mit Akedia einen Ort oder die letzte der sieben Todsünden gleichen Namens meint, bleibt offen, begegnen wir doch in einem Gedicht sogar einem „Tramper nach Akedia“ und im Titelgedicht einer rätselhaften Frau und dem unvergesslichen Vers: „Sie klopft das Sonnenlicht von seinem Anzug“.

Diese Deutungsoffenheit ist eine große Stärke von Lindners Gedichten, in denen es keine Kausalität gibt, aber dafür viele „Kleine Irrtümer“, wie ein Titel lautet. Irrtümer, die sich am Ende womöglich als Wahrheiten entpuppen. Man sollte sich die Mühe machen, einige der mit abgedruckten niederländischen Originaltexte zu lesen, um deren eigene Klanglichkeit zu entdecken.

Erik Lindner: Nach Akedia. Ausgewählte Gedichte. Niederländisch-Deutsch. Übertragen von Rosemarie Still.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014., 170 S., 19,90 €.

Volker Sielaff

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