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Bestseller unter den Bestsellern. Werke des amerikanischen Schriftstellers James Patterson in einer New Yorker Buchhandlung.

© Christina Horsten/dpa

Erfolgreiche Bücher: Was die Bestsellerliste über die Gesellschaft verrät

Der Germanist Jörg Magenau untersucht in „Bücher, die wir liebten“ das Geheimnis des Bestsellers von der Nachkriegszeit bis heute. Er zeigt: Der Erfolg eines Werkes verrät viel über die Zeit.

Bestseller? Da rümpfen Literaturliebhaber schnell die Nase. Was die Masse verschlingt, kann nichts taugen und ist von vornherein suspekt. Vergessen wird dabei gern, dass sich in den Bestsellerlisten immer wieder auch Qualitätstitel tummeln, wie aktuell von Daniel Kehlmann, Elena Ferrante oder sogar Robert Menasse. Und dass schließlich schon Goethe der Ansicht war: „Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben.“

Das Zitat erinnert allerdings auch an die jüngst zu lesende Horrormeldung, wonach dem deutschen Buchmarkt in den letzten Jahren mehr als sechs Millionen Leser verloren gegangen sind. So gesehen, kommt „Bestseller“, Jörg Magenaus Studie über die „Bücher, die wir liebten“, genau zur rechten Zeit. Denn auch wenn der Germanist und Kritiker in erfrischender Drastik einräumt, dass ein Platz auf der „Spiegel“- oder „Focus“-Liste an sich offenlässt, ob es sich „um einen Fall von Schwarmintelligenz“ handle oder „bloß um ein Beispiel dafür, dass der Teufel halt immer auf den größten Haufen scheißt“: Magenau ist zum Glück keiner, der Bestseller nur mit spitzen Fingern anfasst.

Vielmehr ist er ein leidenschaftlicher Leser, für den es immer wieder aufs Neue ein Grund zum Staunen ist, wenn sich individuelles Leseglück und Publikumszuspruch vereinen. Dabei erinnert er sich an die Einsicht Siegfried Kracauers, wonach jeder Erfolgstitel „Zeichen eines geglückten soziologischen Experiments“ sei, also symptomatisch für die jeweiligen, oft auch widersprüchlichen Motive und Bedürfnisse der Leser.

Abbild der "deutschen Seele"

Magenaus Blick auf die großen Bucherfolge der Bundesrepublik seit 1945 zeigt, dass viele Titel gerade deshalb erfolgreich werden, weil sie geschickt kollektive Ängste und Nöte bewirtschaften. Oder aber auch: von diesen ablenken. 1949 zum Beispiel wurde ausgerechnet ein Buch über die Geschichte der Archäologie, „Götter, Gräber und Gelehrte“ von C. W. Ceram alias Kurt Marek, zum Bestseller. Offenbar bot den in den Ruinenlandschaften ihrer zerbombten Städte hausenden Deutschen die Beschäftigung mit den Überresten vergangener Epochen Trost. Bestsellerlisten fungierten somit als „eine Art Fieberthermometer“ der Gesellschaft: „Erfolgstitel sind Indikatoren, die über sich selbst hinausweisend eine besondere deutsche Geschichte erzählen.“ Mitte der Achtziger zum Beispiel, als die „German Angst“ vor Atomtod und Umweltzerstörung grassierte, wurde ein amerikanischer Selbsthilferatgeber aus dem Jahr 1948 wiederentdeckt, Dale Carnegies „Sorge dich nicht – lebe!“, der sich auch im folgenden Jahrzehnt wie geschnitten Brot verkaufte.

Stärke, Disziplin und Durchsetzungsfähigkeit, resümiert Magenau: „Es waren Tugenden einer Epoche der gesellschaftlichen Entsolidarisierung; die amerikanischen Lehren der dreißiger Jahre ließen sich problemlos in den Kapitalismus der Neunziger übertragen. Wer Carnegies Ratschläge beherzigte, der würde, so dessen Versprechen, ein ‚Sieger sein‘.“ Dagegen standen 2016 Thilo Sarrazins apokalyptisch-paranoide Thesen auf Platz eins der Sachbuchliste, gefolgt von der kommentierten Neuausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ und mit Peter Wohllebens „Das geheime Leben der Bäume“ auch noch der deutsche Wald – die Bestsellerliste als „getreues Abbild der deutschen Seele“, wie Magenau kommentiert.

Magenau zeigt überraschende Verbindungslinien

Dem erstaunlichen Erfolg des schreibenden Försters Wohlleben widmet er sich in dem Kapitel „Die Sprache der Natur“. Denn Magenau untersucht die größten deutschen Bucherfolge, ihre Entstehungsgeschichten und Erfolgsgründe, nicht chronologisch, sondern klugerweise thematisch gebündelt. Die Spannweite reicht von der Sorge um das Selbst mit den Titeln von Giulia Enders oder Eckart von Hirschhausen über die großen Memoirenerfolge (etwa Hildegard Knefs „Der geschenkte Gaul“) oder Emanzipationstitel (Ute Erhardts „Gute Mädchen“) bis zum Boom von DDR-Romanen seit Uwe Tellkamps „Der Turm“ aus dem Jahr 2008, von dem Magenau vermutet, es sei wohl das „meistungelesene Buch“ nach 1989 und nur als Einschlafhilfe brauchbar. Schwarmintelligenz oder defäkierender Teufel: Der Kritiker in Magenau zerpflückt nicht nur Erfolgsgeschichten wie Tellkamps gepflegte Langeweile oder das „unangenehme Bescheidwissertum“ Richard David Prechts, er ermuntert auch zum Wiederlesen (Patrick Süskinds „Das Parfüm“!). Und macht neben „Bestsellergesetzen“ wie der variierenden Wiederholung von Bekanntem überraschende Verbindungslinien und Veränderungen sichtbar. So erweist sich Peter Wohlleben als Nachfahre Bernhard Grzimeks, der sich mit „Serengeti darf nicht sterben“ 1959 in den Bestsellerlisten verewigte.

Allerdings dominierte bei dem später im Fernsehen („Ein Platz für Tiere“) reüssierenden Grzimek in der Natur noch das Recht des Stärkeren. Wohlleben dagegen, so Magenau, präsentiert Natur als eine Art heimeligen Sozialstaat, bei dem die Bäume einander helfen, inklusive „Gruppenkuscheln“ und Kindergarten für die Schößlinge: „vielleicht trifft er genau damit den Nerv der Zeit, unseren Nerv als Leser: Sein Wald kompensiert, was in einer auf Konkurrenz basierenden Gesellschaft verloren geht, in der die Dorfgemeinschaften und Familien zerfallen und jeder alleine für sich selbst sorgen muss.“

Hitler verkörpert das Bestsellerprinzip

Unser Nerv als Leser: Magenaus Buch ist klug und kenntnisreich. Sein vereinnahmender Wir-Stil, der die für Bestseller typische kollektive Perspektive zum Ausdruck bringen soll, wirkt mitunter jedoch arg befremdlich, gerade bei älteren Titeln. Wie im Fall des ersten großen deutschen Nachkriegs-Bestsellers, Theodor Pliviers „Stalingrad“ von 1945: „Hatten wir denn nicht genug vom Krieg, wir Leser? Hatten wir denn nicht gerade eben noch mit ‚Heil Hitler‘ gegrüßt und auf den Endsieg gehofft?“

Apropos: Hitler, so Magenau, habe wie kein Zweiter disparate Zeitstimmungen erfassen und bündeln können und „verkörpert, so gesehen, das Bestsellerprinzip. Deshalb eignet er sich so sehr als Gegenstand für immer neue Bestseller.“ Eine Einsicht, die „uns Lesern“ Erfolgstitel doch wieder suspekt werden lässt.

Jörg Magenau: Bestseller. Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten. Hamburg, Hoffmann und Campe, Hamburg 2018. 288 Seiten, 22 €.

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