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Erfolg der Regionalkrimis: Mord vor Ort

Mit ihrem Bestseller „Tannöd“ löste Andrea Maria Schenkel einen literarischen Boom aus: 3,2 Millionen Deutsche kauften letztes Jahr einen Regionalkrimi. Was steckt hinter diesem Erfolg?

Orte wie Hinterkaifeck oder Aubing gibt es zu tausenden in Deutschland. Man muss nicht mehr über sie wissen, als dass sie eben existieren. Das wird schon seine Ordnung haben. Dass man mit Orten wie Hinterkaifeck oder Aubing trotzdem etwas verbindet, einen Sechsfachmord auf einem Bauernhof mit dem einen und einen Fünffach-Frauenmörder mit dem anderen, dass also überhaupt nichts in Ordnung ist, das liegt an Andrea Maria Schenkel. Schenkel ist Schriftstellerin, gerade sitzt sie im Konferenzraum ihres Verlages in Hamburg. Schenkel sagt „Grüß Gott“, mit starkem bayerischen Akzent.

Das hat mit einem anderen unbekannten Ort zu tun, Pollenried bei Regensburg. Dort hat Schenkel gelebt und drei Kinder großgezogen, bis sie zu schreiben begann. Bücher wie „Tannöd“ oder „Kalteis“, die mit Preisen überschüttet wurden und sich sensationell verkauften, allein „Tannöd“ eine Million Mal. Schenkels Erfolgsrezept: Krimis, die auf historischen Gerichtsfällen beruhen und in der Provinz spielen.

Gerichtsdokumente, Zeitungsartikel und fiktive Figuren

Auch der neue Roman, „Täuscher“, weicht von diesem Muster nicht ab. Zwei Frauen, Clara Ganslmeier und ihre Mutter, werden im Bayern des Jahres 1922 überfallen. In Landshut, das man sich jetzt wegen Doppelraubmordes merken kann. Claras Verlobter gerät in Verdacht, ein junger Mann, der keine Arbeit hat, dafür viele falsche Freunde. Er wird verhaftet, beteuert aber bis zum Schluss seine Unschuld.

Schenkel verarbeitet Gerichtsdokumente, Zeitungsartikel und fiktive Figuren. Trockene Aktensprache wechselt sich ab mit Dialogen, in denen von „Guateln“, „Spezeln“ oder „Strizzis“ die Rede ist. Als „bayerische Agatha Christie“ wurde Schenkel einmal bezeichnet. Bei der Frankfurter Buchmesse in dieser Woche ist Andrea Maria Schenkel ein heimlicher Star. Sie prägt die Lesegewohnheiten eines Landes, das trotz seiner industriellen Geschichte und seiner dichten Besiedelung von unheimlichen Nebenschauplätzen fasziniert ist.

80 000 Neuerscheinungen bringen die Verlage jedes Jahr in Deutschland auf den Markt. Sehr viele davon Krimis, die beliebtesten Bücher der Deutschen. Regionalkrimis, um genau zu sein. Seit Jahren boomt das Genre. 2012 griffen einer Berechnung des Marktforschungsinstituts GfK zufolge 3,2 Millionen Deutsche zu. Oder, wie es die Berliner Autorin Ada Blitzkrieg mal ausdrückte: „Weckt mich bitte, wenn es endlich ein drittes Literaturgenre neben ‚devoter Frauenroman‘ und ‚Provinzkrimi‘ gibt!“

Ganz schlimm ist Bayern dran

So schlimm wie heute ging es in der literarischen Provinz noch nie zu. Gefrorene Leiche in Cuxhaven, ermordeter Bauherr in Dresden. Erdrosselte Witwe auf Sylt, zerstückelte Leiche in Pirmasens. Tod eines Liebespaares auf Rügen, Tod einer Friseuse in Saarbrücken. Auf der Internetseite „Mord vor Ort“ kann man eine Deutschlandkarte anklicken, auf der alle Regionalkrimi-Schauplätze verzeichnet sind. Mord in Balingen, Tuttlingen, Waiblingen, Gelnhausen. Im Taunus, am Brocken, im Ruhrgebiet, an der Spree, am Neckar, an der Nordseeküste. Ganz schlimm ist Bayern dran, da ist fast jeder Ort ein Tatort. Nur Görlitz hat angeblich noch nicht Eingang in diese Literatur gefunden. Kein Mord, nirgends.

Andrea Maria Schenkel sagt, die Leute wollen in Abgründe sehen. Dafür brauche es ein Ventil, „so wie früher die öffentlichen Hinrichtungen“. Da seien die Leute in Scharen hingezogen, wie zu einem Volksfest. Man hatte sein Picknick dabei, Taschendiebe waren unterwegs. „Man hat sich gefragt, was der da oben wohl verbrochen hat, und dann war man erleichtert, wenn der Kopf gerollt ist.“ Dasselbe Bedürfnis erfülle heute der Krimi: als Ort, an dem man „dem Verbrechen ins Auge schauen kann, ohne selbst vom Verbrechen betroffen zu sein“.

Die Provinz - ein Ort der Bedrohung

Im Jahr 2012 sind in Deutschland 801 Menschen ermordet worden, das ist der niedrigste je erfasste Wert. Auch die Zahl anderer Tötungsdelikte geht seit Jahren zurück. Wieso aber lebt die Provinz in der Literatur als Ort der Bedrohung, als Anti-Heimat fort? Warum werden hier immerzu Menschen umgebracht, als wäre Mord das einzig mögliche Verbrechen?

Anruf bei Melanie Wigbers. Sie hat über den Regionalkrimi geforscht, derzeit lehrt sie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. In Heidelberg spielt natürlich auch ein Regionalkrimi, die Serie um den Kriminalpolizisten Alexander Gerlach, der Zwillingstöchter hat und den Jazz liebt, aber dann wird wieder jemand aufgeschlitzt. Wigbers sagt, der Ort sei dazu da, die Handlung glaubwürdig zu machen. Mögen auch in Krefeld Serienmörder umgehen und in Warnemünde sowohl der Kommissar als auch dessen Tochter ins Verbrechen verwickelt sein – solange die Ortsnamen stimmen, halte der Leser das für realistisch.

Die Eifelkrimis - Klassiker des Genres

Das Vertraute beglaubigt das Unwahrscheinliche. Wigbers findet die Eifel-Krimis von Jacques Berndorf gelungen, fast schon Klassiker des Genres. Berndorf, der eigentlich Michael Preute heißt, war mal Reporter beim „Stern“. Es gibt viele Seiteneinsteiger, ehemalige Schauspieler, Speditionskaufleute, Lehrer, die jetzt Autoren von Regionalkrimis sind. Ende der 80er Jahre begann Berndorf, Krimis zu schreiben, die in der Eifel spielen und von einem Reporter handeln, der Pfeife raucht und Verbrechen nicht einfach unwidersprochen geschehen lassen kann.

Die Eifel-Krimis seien komisch, sagt Wigbers, das mache ihren Erfolg aus. Da liefern sich Leute schon mal Verfolgungsjagden mit dem Traktor, und es gibt im Dorf nur eine Telefonzelle, um ein Verbrechen zu melden, und die ist besetzt. Zudem lasse das Lokale Antihelden zu. Große Städte hingegen, bedrohlich und unübersichtlich, wie sie sind, brauchten große Helden.

In Schenkels Romanen ist nichts komisch. Die Orte tragen Namen wie Finsterau und so sind sie auch: kalte, düstere Käffer. Auf lichtlosen Bauernhöfen werden Menschen erschlagen, und der Mörder sagt auf die Frage, warum er eine Frau und ihren kleinen Sohn getötet hat: „Wenn die Katz stirbt, erschlägt man auch die Brut.“ Es wird ohnehin wenig geredet, Gewalt ist eine Art Angewohnheit, Dinge zu regeln. Die Abgründe, in die Schenkel einen blicken lässt, sind einem nahe, denn sie gehen aus der alltäglichen Enge hervor. Der Enge einer Familie, eines Inzests, der Gier auf ein bisschen Schmuck, es ist sehr wenig, dessentwegen Menschen sterben.

Die Ordnung wird immer wieder hergestellt

Ann-Kathrin Schwarz ist Lektorin beim Verlag Bastei-Lübbe, der spezialisiert ist auf Unterhaltungsliteratur. Wenn Autoren zu ihr kommen, rät sie ihnen: Schreiben Sie einen Regionalkrimi. Am besten angesiedelt in Bayern, das kennen die Leute aus den Ferien. Und weil das Verbrechen so schön mit der Idylle kontrastiere. Die bleibt in den Krimis heil, egal, wie viele Morde in der Eifel, an der Ostsee oder im Bayerischen Wald passieren. Die Provinz übersteht alles, die Ordnung wird immer wieder hergestellt.

Darum geht es auch in der Welt von Andrea Maria Schenkel. Ihre Geschichten findet die 51-Jährige in alten Zeitungen, in Archiven. Für „Täuscher“ hat sie in Bayern im Staatsarchiv Gerichtsakten aus den 20er Jahren durchgekämmt, sogar die Beweismittel waren noch da. Eine Krawatte des mutmaßlichen Täters etwa. Darauf ein Fleck und ein kleiner Zettel mit einem Pfeil, auf den jemand „Blut?“ geschrieben hatte. Es war aber nur ein Soßenfleck. Sich der alten Fälle anzunehmen, bedeutet auch, nachträglich eine Lösung für sie anzubieten.

Sie mag die Fremde

Schenkel spricht schnell, mit heller Stimme. „Kalteis“, ihren Roman über den gleichnamigen Fünffach-Frauenmörder, habe sie am liebsten. „Das ist wie bei Kindern. Man liebt alle gleich, aber zu einem Kind hat man aus irgendeinem Grund eine größere Verbindung.“ Ja, die Kinder. Sie erzählt von ihren eigenen, um die sie sich als Ehefrau eines Arztes früher ausschließlich gekümmert hat, bis sie Mitte 40 war. Die Kinder sind fast erwachsen, und auch in Schenkels Leben ist nichts mehr, wie es war. Schenkel ließ sich scheiden, tauschte das Familienleben in der Provinz gegen das unsichere Dasein als Schriftstellerin.

Schenkel hat jetzt einen Freund in Amerika, pendelt zwischen ihren Kindern in Deutschland und ihrem Freund. Sie ist gerne in Amerika, in einem Vorort in der Nähe von New York. Am Meer ist das, mit Holzhäuschen und sehr ruhig, die Kinder fanden es eine „Gegend wie in einem Horrorfilm“. Schenkel mag die Fremde, die sie „wacher für die eigene Sprache“ mache. „Die Sprache verstärkt die Sehnsucht, dass man sich ein Stück Heimat herholt, es wird einem bewusst, wie schön manche Wörter sind.“

Und wieder gerät sie ins Erzählen

Sie kann sich noch gut erinnern, wie sie das erste Mal in New York aus dem Flugzeug stieg. „Ich schnaufte ein und dachte: Hier riecht es genau wie im alten Büro meines Vaters.“ Der arbeitete nach dem Krieg für die Amerikaner. Zu Hause gingen die Kollegen des Vaters ein und aus, die Mutter kochte, „hungrig auf alles Exotische“. Als Schenkel in der Schule in Bayern den Namen Luther hörte, dachte sie an Martin Luther King.

Schenkel unterbricht sich, entschuldigt sich, dass sie einen „zulabern“ würde mit Familiengeschichten. Aber an einem Abend in Hamburg, der Verlag Hoffmann und Campe gibt einen Empfang für seine Autoren, gerät sie gleich wieder ins Erzählen. Schenkel ist mit ihrer Schwester in die Villengegend an der Alster gekommen, ruhig und mondän, ganz anders als in den Hamburg-Krimis, die immer auf der Reeperbahn oder im Schanzenviertel spielen. Die Autorin nippt an ihrem Weinglas und sagt, es sei „eine Frage des Überlebens“ gewesen, damals als Arztgattin in der Provinz, mit den Kindern, dem geregelten Leben. „Es ging darum: Lasse ich zu, dass ich ausbleiche, bis ich nicht mehr sichtbar bin? Oder aber gehe ich meinen Weg, fühle ich mich selbst wieder?“ Unbequemer und unsicherer sei das, aber sie sei jetzt zufriedener.

Schenkel steht da, umringt von Leuten, eine dunkelhaarige Frau in roter Lederjacke steht dicht bei ihr. Man merkt, dass sie angekommen ist, in ihrem neuen Leben, dem Leben der Großstadt.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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