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Der Berliner Autor Deniz Utlu.

© Kai-Uwe Heinrich

Erdoğan und die Satire: Bin ich Ankara?

Kritik am türkischen Präsident Erdoğan ist leicht – wir müssen den Demokraten in der Türkei helfen. Ein Gastbeitrag des Berliner Autors Deniz Utlu.

Mir wurde ein Witz erzählt. Sagt ein US-Amerikaner zu einem Russen: „Ich kann mich vor das Weiße Haus stellen und rufen, mein Präsident ist ein Arschloch. Das ist Meinungsfreiheit.“ „Das haben wir auch“, sagt der Russe, „kein Problem. Ich kann zum Kreml gehen und rufen: Der Präsident der Amerikaner ist ein Arschloch.“

Keine Ahnung, ob dieser Witz eine Analogie zu der Debatte über den Satirebeitrag mit Erdoğan und Nenas „Irgendwo, irgendwie, irgendwann“ ergibt, aber ich finde ihn gut. Auch deshalb, weil der Protagonist des Witzes derjenige ist, der belehrt wird: Der Russe kehrt die Überheblichkeit des US-Amerikaners um, indem er sich seiner Lage bewusst ist, damit einen humorvollen Umgang findet und außerdem noch auf den Präsidenten des anderen schimpft.

Aber zurück in die Wirklichkeit, in die Realsatire und Realpolitik: Sich über Erdoğan aufzuregen, ist einfach, dazu brauchte es nicht einmal die Einbestellung des deutschen Botschafters. Was können wir aber tun, um die Bürger und ihre Rechte zu verteidigen? Geht es doch zuallererst um sie, wenn wir von Einschränkung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung reden. Zusätzlichen Schutz brauchen nicht die Journalisten und Satiriker in Deutschland, sondern in der Türkei. Und nicht allein Journalisten oder Autoren, auch diejenigen, die in ihren Wohnungen mit dem Vorwand angegriffen werden, sie beherbergten PKK-Mitglieder. Die entscheidende Frage lautet: Was können wir tun, um demokratische Kräfte in der Türkei zu stärken?

Sie sind zahlreich. Ich denke an die Verse auf den Hausfassaden und Mauern seit der Gezi-Bewegung. Da haben junge Menschen in den Städten Poesie und Satire wortwörtlich auf die Straße getragen. Erdoğan nannte sie „Capulcular“, Plünderer, sie eigneten sich das Wort an. Ich denke an kritische Bewegungen in allen Teilen des Landes, an die Frauenbewegung, die Transbewegung, die Kurdenbewegung, an Künstler und Journalisten, an Can Dündar, den Herausgeber der Zeitung „Cumhuriyet“, der vor Gericht gestellt wurde und für den der Staatsanwalt lebenslange Haft fordert. Ich denke aber auch an viele andere.

Nach den Anschlägen in Ankara und Istanbul war niemand Ankara oder Istanbul

Mit „Wir“ meine ich uns alle: Politiker, Autoren, Journalisten, vielleicht auch Satiriker und Künstler aus Deutschland. Nicht im Sinne einer paternalistischen Befreiungsaktion, nicht belehrend, wie der US-Amerikaner in dem Witz – er könnte auch Deutscher, Franzose oder Brite sein –, sondern im Kontext unseres eigenen Handelns. Wo können wir die demokratischen Kräfte in der Türkei in unserem Handeln als Politiker, Zivilgesellschaft, Künstler in Deutschland mitdenken?

Tut diese Debatte das? Oder ruht sie sich auf einer alten, vielleicht jahrhundertealten Vorstellung von der Türkei als Abgrenzungsfläche für eine europäische Idee aus? Könnte nun gerade Erdozan geneigt sein, diese Rolle zu erfüllen? Geraten wir so nicht ins falsche Spannungsfeld? Es muss doch um die Menschen gehen, um die Betroffenen, um Solidarität mit ihnen.

Am 10. Oktober 2015 sprengten sich Selbstmordattentäter bei einer Friedensdemonstration im Zentrum Ankaras in die Luft. 102 Menschen starben, über 500 wurden verletzt. Niemand sagte „Ben Ankarayim“. Auch bei den Anschlägen danach in Ankara und Istanbul war niemand Ankara, war niemand Istanbul. Und wer war diese Woche Lahore?

Die Gefährdeten müssen gestärkt werden

Ich weiß nicht, was die richtige Art ist zu trauern, aber ich weiß, dass die Trauer, die der Verlust eines Menschenlebens auslöst, etwas darüber aussagt, welchen Wert wir ihm beimessen, und dass Solidarität in diesen Zeiten wichtig ist. Dass Solidarität etwas ist, das wir in unserem Handeln mit bedenken müssen. Realpolitik mag zwar auf ungemütliche Kompromisse verweisen, darf aber nicht Entsolidarisierung bedeuten, da sie sich damit aus ihrer demokratischen Einbettung verabschieden würde. Eine Reaktion der Regierung in der Satire-Debatte müsste sich an der Stärkung der Gefährdeten bemessen, nicht an der Meinung der bereits Geschützten. Eben daran bemisst sich auch der Besuch der Bundeskanzlerin bei Erdoğan kurz vor den Wahlen dort im November 2015.

Wir leben in Zeiten simultaner Schäden und selektiver Trauer. Wir können versuchen darauf hinzuwirken, dass die Schäden weniger werden, und zwar überall. Weil es sich gezeigt hat, dass sie wie bei Luftblasen unter einer Plastikbeschichtung bloß verrutschen, wenn wir sie wegdrücken. Wir können darüber nachdenken, warum wir selektiv trauern und wie wir das ändern. Und dann können wir auch gemeinsam lachen.

Der Berliner Autor Deniz Utlu veröffentlichte zuletzt den Roman „Die Ungehaltenen“, Graf Verlag, München. Am Gorki Theater lief 2015 eine Bühnenversion.

Deniz Utlu

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