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Die Schauspielerin Jutta Lampe, als sie 1998 mit dem Gertrud- Eysoldt- Ring ausgezeichnet wurde.

© picture alliance/dpa

Epitaph für Jutta Lampe: Wenn von Kunst besiegt wird die Natur

Jutta Lampe liest Gedichte von Michelangelo: Die Sprech- und Sprachkunst einer großen Schauspielerin ist jetzt posthum auf einer CD zu hören.

Einmal sah ein Kind Michelangelo aus einem Marmorblock eine Skulptur herausmeißeln, und es fragte: „Meister, wie hast du denn gewusst, dass diese schöne Figur in dem großen Stein geschlafen hat?“

Für das Kind war es ein Wunder. Ein anderes, dennoch vergleichbares Mirakel bedeutet die Verwandlung, die geschriebene Worte im Mund einer Schauspielerin oder eines Schauspielers erfahren können. Plötzlich können sie eine sinnliche Körperlichkeit gewinnen und zugleich sinnhaft mehrdeutig werden. Oder geheimnisvoll. Jutta Lampe war eine dieser Sprach- und Sprech-Magierinnen.

Nun gibt es ein weiteres kleines Wunder: in Gestalt einer gerade erschienenen CD, die eine besondere Geschichte hat. Am 1. November 2011 hatte Jutta Lampe in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem Gedichte von Michelangelo gelesen. Ihr Vortrag war ohne Publikum, organisiert von Ulrich Eckhardt, dem langjährigen Intendanten der Berliner Festspiele und konzertierenden Pianisten; aufgenommen hat die Lesung der Produzent Reiner Wirth vom Label Note & Ton. Hinterher entschieden Eckhardt und Wirth, die Aufnahme nicht zu veröffentlichen. Was sie jetzt doch getan haben, nachdem Jutta Lampe am 3. Dezember gestorben ist.

Ulrich Eckhardt erzählt zu diesem Sinneswandel: „Wir hatten die Lesung der Michelangelo-Gedichte als ein Geschenk damals an Claudio Abbado viele Stunden in meinem Wohnzimmer geprobt. Dann in der Jesus-Christus-Kirche waren wir tief berührt. Aber Jutta wusste wohl nicht mehr ganz, was sie da eigentlich las. Der Prozess des Aus-der Welt-Gehens hatte für sie bereits begonnen.“

Die Freundschaft mit Jutta Lampe ließ Eckhardt zögern, die Skrupel überwogen. „Nach ihrem Tod haben wir uns die Aufnahme noch einmal angehört und ganz stark gespürt: Das ist der Nachklang eines großen Künstlerlebens, das sollten wir nicht vorenthalten.“

Lampe wirkt geisterhaft präsent

Tatsächlich ist die von kurzen, kontemplativen Klavierstücken der „Música Callada“ des katalanischen Komponisten Frederic Mompou in Ulrich Eckhardts Interpretation begleitete CD „Jutta Lampe liest Gedichte von Michelangelo“ ein Dokument: weil sie die letzte künstlerische Äußerung der Schauspielerin bewahrt, die vom Gedächtnisverlust bis zum Ende immer mehr wie in einen Kokon eingesponnen war. Mit der CD aber tritt sie zehn Jahre nach jenem Auftritt in der Dahlemer Kirche noch einmal hervor. Wie rückverwandelt.

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Ja, Jutta Lampe wirkt hier geisterhaft präsent. Eben geistesgegenwärtig. Dass in ihrer hochmelodiösen, frisch gebliebenen Stimme zugleich etwas Tagträumerisches liegt – wie oftmals auch in ihrem Spiel –, kommt eher bekräftigend hinzu. Es hat à la Proust das Momentum der wiedergefundenen Zeit.

Michelangelo war ein zerrissener, von Unruhe getriebener Künstler

Michelangelo Buonarotti (1475 – 1564) beschwört in seinen zu Lebzeiten nie im Druck erschienenen, gleichwohl mit dem Selbstbewusstsein des grandiosen Bildhauer- und Malerpoeten verfassten Dichtungen die eigene physische Vergänglichkeit – und das erhoffte Überdauern in den Werken der Kunst. Seine Sonette und lyrischen Reflexionen spiegeln darin auch den Versuch des Bildhauers, die steinerne Materie „quasi vivo“ zu beseelen. Teils waren die Verse dabei an seine gräfliche Freundin Vittoria Colonna adressiert, die selbst Poetin und gebildete Humanistin war. Ihrer beider platonisches Verhältnis gleicht der 200 Jahre späteren Beziehung des Michelangelo-Verehrers Goethe mit der Freifrau von Stein. Ein zweiter Zyklus der unter anderem auch von Rilke ins Deutsche übertragenen Dichtungen galt Michelangelos Zeichenschüler und jungem Vertrauten, dem Edelmann Tommaso de’ Cavalieri. In spirituell-erotischer Zuneigung.

Michelangelo war ein Zerrissener zwischen päpstlichen und weltlichen Auftraggebern, zwischen Florenz und Rom, Bildhauerei, Architektur und Malerei (sein tollstes Werk, die Ausmalung der Sixtinischen Kapelle, geschah zunächst wider Willen). Zerrissen auch zwischen Männern und Frauen, wobei er den Frauen meist eher männlich muskulöse Körper gab. Trotz seines Ruhms blieb Michelangelo ein sonderbar Geschlagener, Unruhiger, bei aller künstlerischen Perfektion auch mit dem Unvollendeten spielender Mann. So ließ er seine Figuren bisweilen nur zur einen Körperhälfte aus dem Stein erwachen und hervortreten (das berühmte „non finito“).

Allein die inständige Genauigkeit, wenn Jutta Lampe rezitiert

Wie ein claire-obscure der besonderen Art, zwischen lichter Melodik und melancholischem Unterton, liest Jutta Lampe das klare Geheimnis: „Eh alles war, erschuf Gott aus dem Nichts / die Zeit, zerteilte sie und gab dem einen / der Teile Sonnenglanz, ihn zu bescheinen, / dem anderen nur den Schein des Mondlichts. // Und Zufall, Schicksal, Glück: mit einem Schlag / entsprangen nun aus beiden.“ Eine Welt, in der sich Michelangelo, der Glänzende, „in trüber Dämm’rung hinleben“ sah.

An Vittoria schreibt er in der hier verwendeten Übersetzung von Sophie Hasenclever: „Es weicht die Ursache der Wirkung, / wenn von Kunst besiegt wird die Natur. / Ich beweis es ja in schönen Bildern: / Vor dem Werk muss Zeit und Tod vergehen.“ Das ist die Hoffnung, die Jutta Lampe auch für sich selbst zu beschwören scheint. In der inständigen Genauigkeit, mit der sie jeder Silbe, jedem Sinn ihren Ton verleiht.
Jutta Lampe liest Gedichte von Michelangelo. Dazu neun Klavierstücke von Frederic Mompou, gespielt von Ulrich Eckhardt. CD für 15,- €, erhältlich über https://ulricheckhardt.de

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