zum Hauptinhalt
Ein Motto, das man kaum übersetzen muss, aber nicht oft genug in vielen Sprachen beschwören kann. Die Beatles 1967 im Hinterhof der Londoner Abbey Road Studios.

© Getty Images(Evening Standard

Entstehung des Westens: Und hättet ihr der Liebe nicht

Frohe Botschaft: Der britische Historiker Tom Holland erzählt eine überaus christliche Geschichte Europas.

Tom Holland kennt keine Angst. Seit Jahren nimmt sich der britische Historiker der großen Themen an, um die Geschichte Europas zu erzählen: Perser, Griechen, Römer, Christentum, Islam. So sind mehrere Wälzer entstanden, hybride Gebilde zwischen Sachbuch und historischem Roman, Bände von stupender Gelehrsamkeit, doch mit überraschenden Zuspitzungen. Obwohl sich der Autor zum taciteischen Prinzip des „sine ira et studio“ bekennt, merkt man ihm seine Vorliebe für den lebendigen Stil eines Herodot an, was der Lesbarkeit zuträglich ist: Die Helden der Geschichte kauern in Ecken, zucken empört zusammen oder legen ihre Stirnen in Falten. Das macht auch die schwarzen Schafe sympathisch.

So auch in Hollands neuem Streich, der die Bausteine seines bisherigen Werkes zu einer Art Universalgeschichte zusammensetzt: „Herrschaft. Die Entstehung des Westens“ (Dominion – The Making of the Western Mind). Der Titel soll auch der Aufhellung der Gegenwart dienen: Nicht zuletzt versteht sich das Buch als Beitrag zu postkolonialen oder identitätspolitischen Auseinandersetzungen. Vor allem ist es ein durch und durch christliches Buch. Denn die Geschichte des Westens ist für Holland gleichbedeutend mit der Geschichte des Christentums und ihres Vermächtnisses – auch dort, wo man es nicht (mehr) vermutet.

Ausdrücklich bekennt sich der Autor in dem sehr persönlich gehaltenen Schlussstück über seine Lieblingstante „Deb“, der das Buch gewidmet ist, auch zum christlichen Glauben. Flankiert wird die Grußadresse von drei Motti: den Liebesbotschaften des Augustinus und der Beatles, die aber mittig aufgesprengt werden vom bösen Onkel Nietzsche. Das stimmt die Leser darauf ein, dass neben „All you need is love“ auch „Sympathy for the Devil“ vorhanden ist.

Playboy mit Maskara

Aus dieser Perspektive zeichnet Holland nach, wie „die Hinrichtung eines obskuren Verbrechers“ derart für Furore sorgen konnte: Er zieht große Linien, die an den Knotenpunkten mit zahlreichen Details angereichert sind, und bietet vielfältige Konstellationen aus Zeiten, Räumen und vor allem herausragenden Persönlichkeiten, unter denen sich auch immer wieder Überraschungen finden wie der griechische Philosoph Demetrios von Phaleron, den er als blondierten, maskarabemalten „Playboy“ zeichnet, oder den frommen Irenäus von Lyon; auch für weibliche Heldinnen wie die Heilige Elisabeth aus Marburg, die zur Selbstkasteiung neigte, oder Maifreda, die sich zur Päpstin berufen fühlte, gibt es Entfaltungsspielräume. Große Namen wie Alexander, Caesar, Augustus oder Napoleon kommen eher beiläufig vor.

Im ersten der drei Großkapitel, „Antike“, begegnen wir Persern, Griechen und Römern. Da wir es ausnahmslos mit Heidenvölkern zu tun haben, blicken wir sogleich in die Abgründe menschlicher Grausamkeit, was Hollands Affinität zum Horror-Genre entspricht: Der erste beheizte Swimmingpool der Römer ist auf einem Leichenberg errichtet worden; hier hatte man vormals die toten Körper gekreuzigter Sklaven gesammelt. Über dem frühen Beispiel für Gentrifizierung hängt „Leichengestank in der Luft“, und der begleitet einen durch das ganze Buch. Von hier ist der Weg nach Golgatha und zur Verklärung Jesu als „Ikone majestätischer Erhabenheit“ nicht weit. Ständiger Referenzpunkt bleibt die gespannte Beziehung zum Judentum, dessen Genese im Rahmen der Eroberung Jerusalems durch Pompeius Magnus nachgezeichnet wird.

Schon zu Beginn erfahren wir Entscheidendes über die Haltung des Autors zur heidnischen Antike. Die olympischen Götter mögen die „Rockstars“ sein; auf den zweiten Blick scheint ihre oberflächliche Attraktivität jedoch nicht mehr zu verfangen, dem Autor jedenfalls wurde diese ganze Welt doch umso fremder, je vertrauter ihm die christlichen Werte schienen (oder was er dafür hält). Das ist nun kein neues Paradigma; doch zeigt sich bald, dass die Antike eben nicht das „nächste Fremde“ ist, wie es in einer Prägung des Klassischen Philologen Uvo Hölscher hieß, sondern ein fernes Fremdes. So fremd wie der Islam dem Christentum – zum Beispiel.

Nicht alle Menschen verfügen über gleiche Rechte

Was ist daran fremd? Etwa dass nicht alle Menschen über eine Würde und über gleiche Rechte verfügen. Fremd ist die Herzlosigkeit gegenüber den Armen. Dass Sklaverei eine Selbstverständlichkeit war. Oder dass Neugeborene auf Müllkippen entsorgt wurden. Allerdings lässt Holland es leider unerwähnt, dass es zu diesen Punkten durchaus heterogene Positionen innerhalb der antiken Kulturen oder anderer religiöser Gemeinschaften gibt.

Nicht dass die Christen nicht grausam gewesen wären. Konsequent trägt Holland alle möglichen Beispiele exzessiver Gewalt zusammen, die aus innerchristlichen Spannungen oder aus Konflikten mit anderen Religionen hervorgingen, von den Streitigkeiten um die Trinität über den immer wieder aufkeimenden Fanatismus gegenüber „Häretikern“, die Kreuzzüge, die Inquisition und die Pariser Bluthochzeit bis hin zu den Gewaltverbrechen der Kolonialisierungsprozesse in Amerika, die mit der Eroberungsreise des Columbus einsetzten. Aber diese Grausamkeiten waren, so lesen wir, anders motiviert: nämlich christlich. Es ging um etwas, es ging um Nächstenliebe und Menschenrechte auch dort, wo sie offensichtlich „falsch“ verstanden worden sind.

Pragmatiker wie Eiferer, Asketen wie Genießer, mächtige Päpste wie mutige Einzelgänger, haben das Ihre dazu beigetragen, den christlichen Glauben so weit wie möglich zu verbreiten, zu den entlegensten Fleckchen Europas wie dem Monte Gargano oder die Skellig Michael bis nach Amerika und Indien, wo der fromme Christ vor den heimischen Bräuchen ob ihrer vermeintlichen Grausamkeit nicht selten entsetzt zurückwich. Irgendwann tauchen die Sarazenen mit ihrem Propheten Mohamed auf und breiten sich rund ums Mittelmeer aus, wobei sie die Lehren der griechischen Philosophen entdecken, die schon seit Langem mit jüdischer Gelehrsamkeit verwachsen waren.

Besonders fesselnd gerät die Zeichnung Martin Luthers, dessen eiserne Weigerung, seine 95 Thesen in Worms zu widerrufen, sich am 17. April zum 500. Mal jährt. Auf der Wartburg führt die Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche zur Darmreinigung: „Als Luther damit fertig war, hatte sich sogar seine Verstopfung gebessert“. Diese Katharsis steht an der Schwelle zur Aufklärung, mit welcher der dritte Abschnitt, nach „Antike“ und „Christentum“, einsetzt, „Modernitas“ überschrieben. Ob sich der Autor davon ein Wiedererstarken des Lateinischen erhofft?

Otto Dix an der Front im Ersten Weltkrieg

Unter den „Aufgeklärten“ erkennt Spinoza nur das Licht als Lehrer an, während der Marquis de Sade für die Frivolitäten seiner „Nouvelle Justine“ hinter schwedischen Gardinen landet. Im Ersten Weltkrieg begleiten wir Otto Dix, der Nietzsche im Gepäck hat, an die Front. In Nietzsche erkennt Holland den scharfsinnigsten Widersacher des Christentums: Als Hassprediger hätte er heute wohl sämtliche Internetwächter auf sich aufmerksam gemacht. Accounts gesperrt. Doch für Holland bieten sich andere Vergleiche an: „Wie Nietzsche verstanden die Terroristen des IS die Frömmeleien der Kultur des Westens – die Sorge um die Leidenden, das Geschwätz von Menschenrechten – als Quelle einer furchtbaren und widerlichen Macht.“

Von Nietzsche scheint für Holland auch der Weg ins heidnische Nazideutschland nicht weit zu sein. Auf der anderen Seite kämpfen die Engländer mit Tolkien, den Holland kurzerhand zum „meistgelesenen christlichen Schriftsteller“ erkiest. Der Boden ist bereitet für die abschließenden Überlegungen zu christlichen oder christlich anmutenden Botschaften im 20. und 21. Jahrhundert, von Martin Luther King und Nelson Mandela über Woodstock und die Beatles, obwohl diese von „goody goody stuff“ gar nicht viel hielten.

Bezeichnenderweise endet das Buch mit dem Kapitel „Woke“, ist also dem jüngsten Trend des „ausgeprägten Bewusstseins für rassistische oder soziale Ungerechtigkeit“ gewidmet, den Holland auch für christlich grundiert hält. Da werden dann aktuelle Initiativen gewürdigt, wozu auch die #MeToo-Bewegung gehört, sodass uns Harvey Weinstein in seinem Bademantel nicht erspart bleibt. Auch andere unliebsame Zeitgenossen wie Viktor Orbán oder Donald Trump werden in ihre Entstehungskontexte eingeordnet, sodass sie nicht wie solitäre Böse daherkommen.

[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Zu den Guten gehört jedoch erkennbar die deutsche Bundeskanzlerin, nicht ohne Grund Pfarrerstochter, mit ihrer Flüchtlingspolitik; damit stiftet sie nicht nur Kontinuität, sondern befindet sich auch in frömmster Gesellschaft: „Als Merkel den Opfern des Krieges im Nahen Osten Zuflucht gewährte, tat sie nichts, das Gregor von Nyssa sechzehn Jahrhunderte zuvor nicht auch getan hätte.“ Man liest das alles mit Interesse, auch mit Begeisterung und Bewunderung für die großen Schwünge und Vergleiche, doch wünschte man sich etwas mehr Verständnis dafür, dass auch das Christentum auf den Schultern von Riesen gestanden hat, und zwar nicht nur hinsichtlich menschlicher Grausamkeit.

Auch wo dezidiert „nicht christlich“ draufsteht, ist bei Holland Christentum drin. Scheint, als wolle er zumal die in europäische Kontexte verstrickten Leser nicht ungesalbten Hauptes entlassen aus der Lektürenummer, sodass am Ende die Sehnsucht bleibt nach Nietzsche, den olympischen Göttern oder Denis Diderot, der Voltaire ehrfurchtsvoll einen „Antichristen“ nannte.

Melanie Möller

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false