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Nichtstun, wer kann das schon heutzutage? Die von Soziologen angemahnte Entschleunigung findet trotz Lockdown nicht statt.

© imago images/Ikon Images

Entschleunigung in Corona-Zeiten: Wir müssen raus aus dem Hamsterrad der Produktivität!

Manch einer hat jetzt tatsächlich Zeit. Aber warum ist es so schwer, sie nicht für die Selbstoptimierung zu nutzen?

Man wird dieser Tage leicht zum Zwangsoptimisten. Vielleicht stärkt die Coronakrise wenigstens unsere Solidarität und unser Verantwortungsbewusstsein? Irgendwie muss sich diese Krise – wie jede andere – doch auch als Chance entpuppen. Und sei es nur, dass man sich endlich mehr Zeit nimmt.

Der Soziologe Ortwin Ren sagte im Deutschlandfunk, diese Tage seien eine einmalige Chance zur Entschleunigung. Ein wenig mehr Muße und Ruhe würden uns allen gut tun. Sein Kollege Hartmut Rosa erklärt im Tagesspiegel sogar, das Virus sei der „radikalste Entschleuniger“ der letzten 200 Jahre und Inbegriff einer monströsen Unverfügbarkeit, da die Welt uns nicht mehr offensteht.

Doch was wir nicht mehr in der physischen Welt unternehmen können, muss digital nachgeholt werden. Rosa konstatiert: „Wir beschleunigen weiter in der digitalen Welt, sogar verstärkt“. Von wegen Stillstand.

Vielerorts droht der Lagerkoller, da ist Ablenkung mehr als willkommen. Doch wäre es nicht tatsächlich an der Zeit, die Füße hochzulegen und sich der wohligen Glückseligkeit der Faulheit hinzugeben? Oder sind wir dazu gar nicht mehr im Stande?

Tatendrang im Privaten kompensiert die Entschleunigung des Alltags

Natürlich kann sich nicht jeder das Faulsein auch leisten: Viele arbeiten jetzt doppelt so schwer und übernehmen zusätzlich die komplette Kinderbetreuung. Doch wer Zeit hat, lässt sich womöglich von der medialen Empfehlungsflut an digitalen Zeitvertreibsmöglichkeiten mitreißen oder gibt sich dem Drang der Selbstoptimierung hin.

Endlich den Stapel nicht gelesener Bücher beseitigen, endlich die fünf Staffeln von „The Wire“ guckten, Yogamatte ausrollen, das Schulfranzösisch auffrischen - und selber Sauerteig ansetzen: Das gibt bestimmt ordentlich Likes bei Instagram.

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So wird die Entschleunigung des öffentlichen Lebens vom Tatendrang im Privaten kompensiert. Zahlreiche Unternehmen liefern die Voraussetzungen dafür: Plattformen wie Audible verschenken Teile ihres Angebots, Sportflatrateanbieter locken mit unbegrenzten Onlineklassen, digitale Sprachkurse präsentieren sich als alternativer Zeitvertreib. Die User-Zahl der der Videokonferenz-Software Zoom stieg fast um das Vierfache.

Im christlichen Weltbild gilt die Faulheit als Todsünde

Die vermeintliche Entschleunigung wird somit nicht nur aufgehoben, sondern auch noch kommerzialisiert. Endlich hat man die Zeit und Ruhe, sich durch neue Vorhaben gleich wieder um die eben gewonnene Zeit und Ruhe zu bringen.

Als gebe die grenzenlose Auswahl der digitalen Welt uns das Gefühl der totalen Verfügbarkeit zurück, das die Außenwelt nun nicht mehr vermitteln kann. Der „Erfahrungshunger“, den uns Hartmut Rosa in seinem Essay „Beschleunigung und Entfremdung“ attestiert, will weiterhin gestillt sein.

Dem entgegenzuwirken, ist seit jeher verpönt. Im christlichen Weltbild gilt die Faulheit als Todsünde, ihr haftet etwas Verbotenes, Dekadentes an. Etwa bei Gotthold Ephraim Lessing, wenn er schreibt: „Lass uns faul in allen Sachen, nur nicht faul zu Lieb und Wein, nur nicht faul zur Faulheit sein.“

Der Philosoph Guillaume Paoli räumt in seiner „Eloge de la démotivation“ mit dem Mythos der Faulheit auf und führt das Beispiel des Esels an, der oft als faul und dumm dargestellt wird, weil er nicht so fleißig arbeitet wie manch anderes Tier.

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In Wahrheit aber sei sein Eigenwille einfach nicht vollständig von der Domestizierung gebrochen worden. „Auch Trägheit ist eine Kraft“, sagt Paoli. Es könnte sich lohnen, sich diese Kraft wieder anzueignen. Nicht in Form von Schlabberlook im Homeoffice, sondern als radikales Mindset.

Die Angst, etwas zu verpassen, geht auch jetzt noch um

Von der Notwendigkeit des absoluten Nichtstuns berichtet auch die amerikanische Künstlerin und Autorin Jenny Odell in ihrem aktuellen Buch „How to Do Nothing“. Sie warnt vor einer Kolonialisierung des Ichs durch die kapitalistischen Ideale der Produktivität und Kreativität, denen unser Handeln und Alltag untergeordnet wird.

In der gegenwärtigen Aufmerksamkeitsökonomie wird die eigene Persönlichkeit immer mehr zur persönlichen Marke, die im digitalen Identitätsinkubator beworben werden muss. Da wird Zeit zu einer kostbaren Ressource, die wir nicht dem Nichtstun opfern können. Faulenzen ist zu teuer. Selbst wenn die Zeit fast unbegrenzt zu werden scheint, wie jetzt bei einigen wegen Corona.

Hier verpassen Sie garantiert nichts: leerer Platz in der Stuttgarter Innenstadt. Unser Erfahrungshunger will trotzdem gestillt sein.
Hier verpassen Sie garantiert nichts: leerer Platz in der Stuttgarter Innenstadt. Unser Erfahrungshunger will trotzdem gestillt sein.

© imago images/Lichtgut

Gegen die Millenialphobie FOMO, die „Fear of missing out“ – die Angst etwas zu verpassen –, wünscht sich Odell eine Dosis NOSMO, die „Necessity of sometimes missing out“, also umgekehrt die Notwendigkeit, gelegentlich etwas zu verpassen. Nur so ist es möglich, aus dem Hamsterrad der Produktivität auszubrechen.

Doch statt dass man sich Ruhepausen gönnt, etabliert sich die FOMO nun nicht nur am Arbeitsplatz, sondern in den eigenen vier Wänden. Die Möglichkeiten warten nicht mehr nur draußen, sondern direkt vor der Nase. Und der eigene Tatendrang hilft zusätzlich dabei, so etwas wie Alltag und Normalität zu simulieren. Ein Ersatzmittel für die Geschwindigkeit, von der man doch eigentlich wegzukommen versucht.

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Die Politikwissenschaftlerin Aisha S. Ahmad schrieb dazu kürzlich, die emotional und spirituell gesündeste Reaktion auf die Krise sei die Bereitschaft, dauerhaft verändert zu sein. Eine Akzeptanz der Umstände ohne persönliche Unterwerfung.

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Nun ist gegen Produktivität an sich nichts einzuwenden. Doch wie Odell warnt, sollte sie nicht als Kern des eigenen Selbstbildes dienen. Vielmehr sollten wir sie hinterfragen: Für wen bin ich produktiv, wie, warum? Stattdessen werden die ödesten, nervigsten Alltagsaufgaben zu „kreativen Challenges“ hochstilisiert und in den sozialen Medien vermarktet: Nicht einfaches Sockenfalten ist angesagt, sondern Aufräumen à la Marie Kondo.

Ruhe wird als "Achtsamkeit" betrachtet und gleich wieder funktionalisiert

Blaise Pascal gab einst zu verstehen, dass „das ganze Unglück der Menschen allein daher rührt, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen“. Selbst die Stille oder Ruhe als solche können viele nicht mehr genießen, auch sie wird als Ressource betrachtet oder als „Achtsamkeit“ praktiziert, um resilienter, glücklicher, kreativer und produktiver zu werden.

So mutiert vermeintlich Negatives wie die Langeweile oder die Melancholie zur Chance für Kreativität und damit zum Instrument des kapitalistischen Produktivitätsdogmas.

Was dabei verloren geht, sind Jenny Odell zufolge unsere persönlichsten Eigenschaften und Sinne. Diejenigen, die keinen vermarktbaren Nutzen haben: das bloße Sein, das einfache Betrachten, Zuhören, Wahrnehmen. Sollte man sich nicht lieber dafür Zeit nehmen als für eine weitere InstaStory vom täglichen Workout fürs eigene Ego und das äußere Image?

Aktive Faulheit bedeutet weder, sich von der Algokratie der Streaminganbieter mit Inhalten füttern lassen, noch jegliche Aktivität zu verweigern, selbst wenn diese sich positiv aufs Gemüt auswirkt. Es ist weder Apathie noch Resignation, sondern die Verweigerung der Maxime der Selbstoptimierung. Es ist die Wiedererlangung der Autonomie über Körper und Geist gegenüber den Forderungen der absoluten Produktivität. Dann erst ließe sich von radikaler Entschleunigung sprechen. Von jenem Zustand, der jedem Menschen zusteht.

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