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Jeder Ton ein Kleinod. Das Ensemble intercontemporain im Pierre Boulez Saal.

© Musikfest Berlin

Ensemble intercontemporain im Boulez Saal: Reise ins Innere

Analyse und Anmut: Das Ensemble intercontemporain ergründet im Pierre Boulez Saal die Musik von Berg, Grisey und Boulez.

Fast ein philosophischer Abend. Am Tag zwei der neuen Saison im Pierre Boulez Saal geht das Ensemble intercontemporain unter Leitung von Matthias Pintscher dem Wesen der Musik auf den Grund, lädt mit Werken von Alban Berg, Gérard Grisey und Boulez zu Klangexpeditionen und Tonschürfungen. Und weil die 1976 von dem französischen Meister und Saal-Namensgeber gegründete Formation tagein, tagaus nichts anderes tut, gehen die Musiker bei ihren Kundgängen mit einer Natürlichkeit und Leichtigkeit zu Werke, dass Analyse und Anmut in eins fallen.

Mit Bergs „Vier Stücken für Klarinette und Klavier“ von 1913 sorgen Martin Adámek und Dimitri Vassilakis im Nu für spannungsvolle Ruhe. Jeder Ton ein Kleinod, die sekundenkurze Eruption wird zur dramatischen Klimax, die kleine Septime am Ende zur Elegie. Aura erstrahlt und verdämmert gleich wieder. Nichts kann sich entwickeln bei diesen fragilen Miniaturen, alles ist Augenblick.

Das flüstert und schabt, knistert und kreischt

Die Spektralmusik von Gérard Grisey bildet dazu einen aufschlussreichen Kontrast. Das dreisätzige „Vortex Vertorum“ für Klavier, Flöte, Klarinette, Geige, Bratsche und Cello (1994-96) zerlegt zunächst ein den Sechzehntelwellen aus Ravels „Daphnis et Chloe“ nachempfundenes Motiv in unendlicher Wiederholung. Alles ist Ewigkeit, alles dehnt sich, staucht sich, wird verwirbelt, flimmert und vibriert, bis zum Klaviersolo mit vier vierteltönig „verstimmten“ Saiten, gleichsam eine Hautirritation auf dem postimpressionistischen Korpus. Wobei Grisey im zweiten Satz – „Zeit der Wale“ – die Abwärtsspiralen mit Ostinati und aggressiven Impulsen durchsetzt, zackig zerklüftete Motive in weißes Rauschen münden und die Klänge sich im dritten Satz bis ins Geräuschhafte auffächern. Das flüstert und schabt, knistert und kreischt, verflüchtigt sich zu einem Windhauch.

Auf Bergs Mikrokosmos und Griseys Makrokosmos folgt Boulez’ „La Marteau sans maître“ für Altstimme, Gitarre, Flöte, Streichinstrument und drei Schlagzeuger. Ein Klassiker der Neuen Musik, dessen Poesie auch 65 Jahre nach seiner Entstehung betörende Wirkung entfaltet. Wenn Salomé Haller bei der Vertonung der drei Rätsel-Gedichte von René Char mit wenigen, weiten Intervallschritten ganze Sphären durchmisst und souverän zwischen Sprechen und Gesang changiert. Wenn Vibraphon und Xylorimba zu filigranen Tänzen animieren. Wenn das Ensemble intercontemporain die Musik zu winzigen Bergkristallen verdichtet und die Kurzatmigkeit solcher Kompositionen gleichwohl vergessen macht.

Mit derart hellhörig gewordenen Ohren würde man zu gerne Bergs Miniaturen vom Anfang noch einmal hören. Am Ende einer Weltreise ins Innere der Musik, wie die Aria am Ende von Bachs Goldberg-Variationen.

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