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Entkront. Ulrich Matthes als Ödipus, Susanne Wolff als Kreon. Foto: Joachim Fieguth

© Joachim Fieguth

Kultur: Empört euch!

Griechisch und mehr: Das Deutsche Theater Berlin eröffnet die neue Saison mit dem furiosen Antikenprojekt „Ödipus Stadt“.

Es liegt erst einmal alles im hellsten Licht. Obwohl die Stadt Theben von der schwarzen Pest bedroht ist und hinter allem Geschehen ein dunkler Fluch seine fatale Wirkung hat. Dabei greift das Deutsche Theater Berlin zur Saisoneröffnung weit aus, weit zurück – oder gar voraus.

Griechenland, die Wiege des europäischen Dramas, einst und jetzt, ist uns so fern wie nah in dem spannungsvollen, in vielen Passagen glänzend geglückten Antikenprojekt, das man unter den Obertitel „Ödipus Stadt“ präsentiert. Die Stadt, die Polis, ist am Anfang des Theaters die Welt und Grundlage der Politik, im Kleinen wie im Größten.

Damit spielt der Abend. Er beginnt mit den Stimmen zweier Kinder, die im Off ein paar Verse und Szenenanweisungen der zweieinhalbtausendjährigen Ödipus-Geschichte ganz heiter, piepsig und garantiert komplexfrei vorbuchstabieren. Das hat seine Komik und schafft eine gleichsam umgekehrte Fallhöhe, wenn nun Ödipus und Kreon die Szene betreten.

Alle tragen sie Röcke und geschnürte Halbschuhe, kein Sandalendrama, kein Kothurn, und obenrum meist ärmellose Trikots, Unterhemden, Tops. Ulrich Matthes als Thebens König Ödipus in Weiß, Susanne Wolff als der spätere Herrscher Kreon ganz in Schwarz. Alles und alle in harten Konturen – auf einer sonst leeren, ikeakieferhellen geschwungenen Holzbühne der Szenenbildnerin Katja Haß: eine nach hinten ansteigende Art riesiger Halfpipe. Gegen sie wird später immer wieder mal angerannt, wie gegen innere, äußere Wände. Mit vorherbestimmten Rückfällen, ins Theater, ins Leben, ins Verhängnis der familiären Weltpolitik.

Der Berliner Schriftsteller und Dramaturg John von Düffel hat für Stephan Kimmigs Inszenierung aus dem „König Ödipus“ von Sophokles, den Aischylos- und Euripides-Dramen „Sieben gegen Theben“ und „Die Phönizierinnen“ sowie zum Abschluss der „Antigone“ des Sophokles (alle in der schlanken Übersetzung von Gregor Schreiner) eine schnell packende, dicht verbundene Trilogie gesponnen. Die Tragödie des Ödipus verbindet sich hier in drei pausenlosen Akten und kaum zweieinhalb Spielstunden zur Gesamttragödie des Mannes Ö. Des vom Schicksal geblendeten Königs- und Vatertöters, Muttergattens und Vaterbruders seiner Söhne und Töchter, deren berühmteste eben die Antigone ist.

Es ist ein Familienfluchdrama wie das der Atriden, ein Inzestkrimi, ein Kriegsstück und am Ende der Diskurs über Staatsraison, Religion, Kinderglaube (weil Antigone gegen das weltliche Gesetz des neuen Herrschers Kreon ihren als Rebell gefallenen Bruder Polyneikes bestatten will) – auch über Recht und Freiheit, Schuld und Sühne. Und nichts kommt zu kurz, trotz aller Kürzungen in den Texten. Das macht die Intelligenz dieses Abends.

Die Schauspieler in ihren Röcken und Hemdchen, ein bisschen ärmlich fast und halb nackt, bezahlen bar. Und setzen sich aus mit einem wunderlichen, jähen Furor. Matthes als Opfertäter mit der Pappkrone eines großen Kindes, geschlagen schon vom Orakel, das seinen ihm zu Lebzeiten unbekannten Vater Laios ereilte, gerät in den hier kaum 45 Minuten des ersten „Ödipus“-Dramas schnell als Detektiv auf die eigene Spur. Und wenn er schon halb ahnungsvoll die Geschichte erzählt, wie er im Zorn einen fremden Herrn (seinen Erzeuger) und seine Knechte einst erschlug, dann erfasst ihn in der Schilderung des Vatermords noch einmal eine wilde Lust am eigenen Affekt, mit einem von der lange zurückliegenden Gewalttat noch einmal faszinierten halb irren Lächeln.

Hat später der Hirte und Bote, der den Ödipus als Säugling einst gegen den Befehl des Königs und Vaters nicht tötete, sondern aus Erbarmen zu Zieheltern gab, dem so glücklich Unglücklichen die fatale Herkunft offenbart, wird das nochmals ein großer Moment. Ulrich Matthes tritt aus dem Bühnenhintergrund mit fast kindlichen Trippelschritten vor, plötzlich leicht gebeugt, starr, wie eine nur noch hölzerne Königspuppe am nunmehr abgeschnittenen Lebens- und Marionettenfaden. So sinkt er vornüber, winselnd wie ein wundes Tier, seinen Kopf in die Hände vergraben, bis er sich, jetzt selbst geblendet, mit blutigen leeren Augen erhebt. Er breitet die Arme aus, ruft seine Töchter Antigone (Katrin Wichmann) und Ismene (Felicitas Madl) zu sich: „Kinder ihr, in meine brüderlichen Arme!“

Später, als Kreon den alten blinden Ödipus endgültig aus Theben verbannt, führt der Matthes’sche Ödip’ in seinem blutverschmierten Rock noch einen kleinen, stampfenden Verzweiflungstanz auf, halb tragischer Rumpelstilz, halb Schmerzensmann mit den ausgebreiteten Armen des Gekreuzigten. „Seht her!“ Auch in diesem Bild verdichten sich Greis und Kind, Wut und Weh in einer ganz unsentimentalen Gebärde. Pathos, nicht Pathetik.

Das Ensemble und Stephan Kimmigs Inszenierung entdecken in der Ödipus-Geschichte tatsächlich von Anfang an: die zugrundeliegende Kinder-Tragödie. Das Unheil beginnt früh und pflanzt sich fort. Auch Katrin Wichmann als Ödipus’ Tochter Antigone, anfangs fast ein blondes Girlie von heute, zeigt die Rebellin als trotziges Kind, in dem alterslos-zeitlos der Stolz einer jungen Frau steckt, deren Bruderliebe ihr das Recht auf Widerstand gibt, unbelehrbar, unbeirrbar.

Susanne Wolff als Kreon, der am Ende gegen Antigone das staatsmännisch gebotene Vernunftprinzip verkörpert. Die Frau als Mann, das könnte auch nur ein heute üblicher Besetzungsgag sein. Hier aber wirkt der Genderwechsel ingeniös. Denn in der Vorgeschichte des sonst selten gespielten Aischylos-Dramas „Sieben gegen Theben“ wird klar, dass auch Kreon, der in der „Antigone“ meist als kalter Tyrann erscheint, ein früh Gebrochener ist. Einer Prophezeiung des alle Stücke durchgeisternden Sehers Teiresias folgend, muss er zur Verteidigung Thebens seinen Lieblingssohn opfern. Wieder eine Kinder-Tragödie. Und Susanne Wolff gibt diesem Kreon eine tiefere Emotionalität, die gleichfalls das Pathos nicht scheut. Zur Mitte der Aufführung trägt sie ihren toten Sohn Menoikeus (Thorsten Hierse) im Arm: das Bild einer Pietà, das sich unaufdringlich dringlich präsentiert.

Es gibt auch ein paar kleinere Überflüssigkeiten in dieser insgesamt so dichten Aufführung: Pseudo-Archaik oder leichte Manieriertheiten in kurzen Turn- und Tanzeinlagen. Auch wären ein paar leisere Töne wohl intensiver gewesen als manch’ vordergründige Lautstärke. Und dass Susanne Wolff in ihrer Virtuosität auch noch sekundenlang den Tragödinnenton der alten Marianne Hoppe parodiert und einige kenntnisreiche Lacher erntet, geschenkt. Neben ihr und Matthes besticht freilich das ganze Ensemble: mit Barbara Schnitzler als ödipaler Mutter und Ehefrau, mit Sven Lehmann dem scharfen, furiosen Seher Teiresias, mit Moritz Grove als Antigones Bruder Polyneikes und in weiteren wechselnden Rollen. Vor allem aber Elias Arens als Eteokles, des Polyneikes’ mächtigerer, mörderischer Bruder, macht gewaltigen Eindruck. Als königlicher Trommler im Zwielicht des Krieges und viril militanter Superthebaner.

Warum das alles? Man denkt an diesem altgriechischen Abend immer wieder, ob Schuld (und Schulden) zum guten Ende nicht eines Schnitts bedürften. Das wahre Ende freilich gehört Antigone, der ins Schattenreich verbannten Rebellin. Schon zwischen den Welten und Zeiten schreit Katrin Wichmann weißglühend ihre kindlich-erwachsene Wut heraus, schreit, bis Kreon alias Susanne Wolff ihr die Bühne ganz überlässt, nur die Kinderkönigskrone liegt noch als Rest der Herrschaft am Boden. Schreit: „Gegen eure Lügen!“ Empört euch! Das ist die Generation Stéphane Hessel, also zwischen 24 und 94, zweieinhalbtausend Jahre jung.

Wieder am 4., 7., 8., 14., 20. September

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