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Zurück zur Monokausalität. Todd bezieht die Geschichte der Menschheit auf die Familie.

© Bernd Wüstneck/dpa

Emmanuel Todd analysiert die Menschheit: Ist die Familie der Motor der Geschichte?

Der Soziologe Emmanuel Todd ist bekannt für Thesengewitter. In "Traurige Moderne" behauptet er, die Familie sei die unbewusste Antriebskraft der Gesellschaft.

Emmanuel Todd hatte schon immer ein Händchen fürs Timing. Noch mitten im Kalten Krieg sagte er bereits 1976 in „La chute finale“ den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus. Da er nur ein Jahrzehnt später recht behielt, wurde er nicht nur zu einem der prominentesten und meistdiskutierten Soziologen Frankreichs, sondern weltbekannt. Es folgten Bücher, die den Nerv der Zeit und ihrer Leser trafen: Im Vorfeld des Irakkrieges 2003 und damit auf dem Höhepunkt der transatlantischen Diskussion über die Außen- und Sicherheitspolitik von George W. Bush junior schrieb Todd einen Nachruf auf die Weltmacht USA – ein Bestseller nicht zuletzt im Deutschland der rot-grünen Regierungsjahre. Hier konnte Todd 2008 einen weiteren Verkaufserfolg erzielen: In „Die unaufhaltsame Revolution“ beschwor er zusammen mit seinem Kollegen Youssef Courbage am Institut National d’Études Démographiques in Paris einen Siegeszug der Moderne in allen islamischen Ländern und schien zu Beginn des Arabischen Frühlings zwei Jahre später ebenfalls richtig zu liegen.

Doch man kann natürlich auch alles anders sehen. Und eben dies scheint genauso zum Geschäftsmodell von Todd zu gehören wie seine steilen Thesen. Kritik und Widerspruch sind schließlich gut für die Verkaufszahlen politischer Bücher. Lag Todd nicht mit seiner These vom Ende der Vereinigten Staaten als Weltmacht total daneben oder war sie nicht zumindest etwas voreilig? Folgte auf Bush nicht Obama, weit über Amerika und Europa hinaus als großer Präsident und Anführer der westlichen Welt verehrt? Und hatte sich die angeblich „unaufhaltsame Revolution“ der Moderne in den islamischen Ländern nicht einmal mehr als eine aufgehaltene gezeigt – ob in Ägypten, Libyen, im Iran oder der Türkei?

Gezielte Provokationen

Nach den Anschlägen von Paris im Januar 2015 steigerte Todd dann in „Wer ist Charlie?“ noch einmal seine Thesenfreude, indem er die von ihm in seiner Heimat nun stärker wahrgenommene Islamophobie mit dem Antisemitismus verglich. Schuld an dieser Entwicklung waren in seinen Augen die katholische Kirche, „Zombie-Katholen“ und die langen Schatten des Vichy-Regimes. Auch hier ließ das von Todd provozierte Echo nicht lange auf sich warten: Intellektuelle und Politiker gingen auf Distanz. Premierminister Manuel Valls kritisierte ihn scharf in „Le Monde“. Die kostenlose Werbung funktionierte erneut. Todd führte die Bestsellerliste an.

Nun ist er zurück mit einem Buch, dem nicht mehr Teile der Welt, die Sowjetunion, die USA, die islamischen Länder oder seine französische Heimat genug sind als Ausgangsbasen für seine Thesengewitter. Jetzt geht es um die Menschheit an sich – und dies gleich von der Steinzeit bis heute. Seinem Objekt der Betrachtung nähert sich Todd, indem er es zunächst auseinander nimmt: Die Familie bildet für ihn die Grundeinheit der Menschheit. Daraus folgert er, dass Familienstrukturen der unbewusste Motor der Geschichte sind. Ob dies allerdings eine „bahnbrechende“ Erkenntnis ist, wie sich das Buch selbst lobt, dürfte zu bezweifeln sein. Die Menschheit lässt sich auch in eine noch kleinere Grundeinheit zerlegen: den Menschen. Daraus könnte man dann ebenso folgern, dass er der Motor der Geschichte sei. Und dies haben bereits Generationen von Historikern, Politologen und Soziologen getan.

Die Verschiedenheit der Nationen akzeptieren

Was also ist neu an der Geschichte der Menschheit, wie Todd sie erzählt? Es ist nicht seine Erzählung an sich. Es ist wieder einmal die damit verbundene These. Und auch diese klingt zunächst nicht wirklich neu: Für den Frieden in der Welt sei es dringend notwendig, die Hypothese von der Verschiedenheit der Nationen zu akzeptieren. Neu ist vielmehr die Begründung: Dies sei das Ergebnis der Differenzierung von Familiensystemen.

Wem diese Theorie zu praxisfern erscheint, dem gibt Todd aktuelle Beispiele an die Hand. Deutschlands Beharren auf Normen, auf gesetzlichen, haushaltspolitischen und monetären Regeln, führt er auf ein strukturelles Unbehagen bei den Spitzenpolitikern einer freien und dominanten Gesellschaft mit Stammfamilie zurück. Da er auch Japan einer solchen Familienstruktur zuordnet, stellt sich die Frage, warum Tokio dann nicht wie Berlin in Fragen der Haushaltspolitik handelt, sondern allmählich mit mehr als dem Doppelten seiner Wirtschaftsleistung verschuldet ist – so stark wie kein anderes Industrieland der Welt. Für diese entgegengesetzte Entwicklung muss es folglich andere Gründe geben als die Familienstrukturen von Gesellschaften.

Eine weitere aktuelle Beobachtung Emmanuel Todds sollte hingegen in der Tat zum Nachdenken anregen: Die schleichende Krise in der deutschen Politik nach der Bundestagswahl 2017, die wenig überrasche, wenn man das Verhalten der Wähler analysiere, und die Gelassenheit führender Politiker, die viel über nebensächliche Details ihrer Programme verhandelten, deuteten auf eine politische Klasse hin, die Mühe habe, zu einer Einigung, also zur einheitlichen Linie zu kommen, zu einem Projekt. Doch auch hier dürfte der Grund dafür nicht allein in der Familienstruktur Deutschlands zu suchen, sondern – wie eigentlich immer in der Geschichte der Menschheit – von vielfältiger Natur sein. Einem erfahrenen Soziologen wie Todd ist dies sicherlich bekannt.

Emmanuel Todd: Traurige Moderne. Aus dem Französischen von Werner Damson und Enrico Heinemann. C. H. Beck Verlag, München 2018. 537 S., 29,95 €.

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