zum Hauptinhalt

Emily Dickinson: Das Frauenzimmer

Als Emily Dickinson Anfang 30 war, beschloss sie, nie mehr vor die Tür zu gehen. In ihrem Haus in Massachusetts schuf sie große Poesie.

Wer als Schriftsteller heute was auf sich hält, der fährt nicht nur wochenlang als Lesereisender durch die Lande, der lebt auch an mindestens zwei Orten der Welt: Amsterdam und Mallorca, Zürich und Guatemala, Berlin und Wewelsfleth, Paris und New York , so steht es immer häufiger in den Kurzbiografien der Verlage.

Emily Dickinson ist einfach ihr Leben lang in Amherst geblieben, einem kleinen College-Städtchen in Massachusetts. 1830 wurde die Lyrikerin in dem vom Großvater erbauten Haus geboren, in dem sie vor 125 Jahren, am 15. Mai 1886, gestorben ist. Mit Anfang 30 beschloss sie, keinen Fuß mehr vors Gartentor zu setzen. In den letzten Jahren hat sie, von altem neuenglischen Adel – der Großvater hatte das bekannte Amherst College mitbegründet –, nicht mal mehr die Zimmertür weiter als einen Spalt geöffnet.

Und doch hat sie, mitten im 19. Jahrhundert, moderne Weltliteratur geschaffen. Paul Celan hat ihre Gedichte übersetzt, Carla Bruni hat sie gesungen, mit Gottfried Benn wurde sie verglichen. Donna Leon schwärmt für die „nie erreichte Eindringlichkeit und Kraft“ ihrer zur Essenz destillierten Sprache, in Salingers „Fänger im Roggen“ erklärt eine der Figuren Emily Dickinson zur wichtigsten Kriegsdichterin Amerikas.

Dabei schrieb diese gar nicht über den Bürgerkrieg, der ihr Land zu jener Zeit so heftig erschütterte, dass es fast daran zerbrochen wäre. Ihr Schlachtfeld war die Seele. Zweifel und Verzweiflung, Abschied und Tod, Liebe und Einsamkeit gehören zu den wiederkehrenden Themen der Dichterin, die auch kühn, frech und ironisch sein konnte, deren Verse immer äußerst knapp, ohne erklärenden Titel und – anders waren. „Sag alles wahr, doch sag es schräg“, lautete ihr Motto.

Der Gedankenstrich, die Leerstelle par excellence, war ihr Markenzeichen, gehörte zu ihr „wie die Sommersprossen auf ihrem Busen“, wie die Übersetzerin Lola Gruenthal bemerkt. Gerade das Geheimnisvolle ihrer Literatur wie ihres Lebens forderte die Nachgeborenen heraus, die Lücken mit reichlich eigenen Spekulationen und Projektionen zu füllen. Waren die von ihr so leidenschaftlich adressierten Liebhaber zum Beispiel real oder der Fantasie entsprungen?

Gerade mal sieben ihrer 1775 Gedichte sind zu ihren Lebzeiten erschienen, und selbst die nicht in der von ihr vorgesehenen Form. Die einzigen Bücher, die es von ihr gab, waren die von ihr selbst genähten, die sie in die Truhe steckte; der einzige Preis, den sie je bekam, war einer fürs Brotbacken.

Heute füllt die Sekundärliteratur ganze Bibliotheken. Posthum wurden bei ihr Agoraphobie und Epilepsie diagnostiziert, von den einen wurde sie für lesbisch, von den anderen für psychotisch erklärt. Worauf sie selbst die beste Antwort mit einem ihrer Gedichte gab: „Wahnsinn ist oft der höchste Sinn –/Für den, der ihn versteht –/ Und Sinn – der tollste Wahnsinn oft –/Nur die Mehrheit/Entscheidet hier wie überall –/Wer zustimmt – ist gesund –/Wer abweicht – ist gefährlich – und/Braucht Ketten wie ein Hund.“

Emily Dickinson war, darüber zumindest herrscht Einigkeit, eine empfindsame Seele, aber auch ein selbstbewusstes Wesen. „Klein bin ich, wie’s Zaunkönige sind, meine Haare keck wie in ihrem Igel die Kastanie – und mein Auge wie der Rest Sherry, den der Gast im Glas läßt“, so schildert sie sich Thomas Wentworth Higginson, ihrem angehenden Freund und Förderer. Denn Emily Dickinson hatte sich durch ihren äußerlichen Rückzug keineswegs ganz von der Welt gelöst, sie kommunizierte eifrig mit ihr: mit hunderten Briefen, die sie wie ihre Gedichte polierte, in die sie oft Verse integrierte. Sie hielt sich die Menschen nur vom Leib.

Sie kannte sie auch so. Ihr Werk ist ein einziger Triumpf der Fantasie. Auch ohne je das Meer gesehen zu haben, erklärte sie, sie wisse, wie die Wogen gehen.

Das frühere Bild von Emily Dickinson – ein scheues, ängstliches Fräulein – ist heute weitgehend abgelöst von der Ansicht, dass ihr inneres Exil eher selbst gewählt war. Dass sie sich genommen hat, was Virginia Woolf Jahrzehnte später für die Frauen fordern sollte: einen Raum für sich allein. Gerade die äußere Beschränkung erlaubte ihr demnach, Grenzen zu überschreiten, die die puritanische Gesellschaft ihr als Frau zog. „Ich wohne in der Möglichkeit –/Ihr Haus ist im Vergleich/Viel schöner – tür- und fensterreich –/Als die Alltäglichkeit –.“

Sie wollte frei wie eine Biene sein, schrieb sie ein andermal. In ihrem großen Schlafzimmer, wo sie vom Schreibtisch vor dem Fenster den geliebten Garten und das Leben auf der Hauptstraße im Blick hatte, war sie frei, zu denken und zu dichten, was sie wollte. Geist und Fantasie waren die Flügel, mit denen sie sich auch über Gott und die Kirche erhob, die die streng puritanische Gesellschaft Neuenglands beherrschte. Der religiösen Wiedererweckungswelle jener Zeit hat sie sich verweigert. „Ist Gott ein Arzt? Man redet/Von seiner Heilungskraft –/ Doch gibt es keine Medizin,/Die Tote leben macht –/Ist Gott Finanzminister?/Man sagt, wir schulden viel –/Jedoch bei dieser Transaktion/Halt ich mich aus dem Spiel.“

Als moderne Frau hatte sie ausgezeichnete Schulen besucht, und obwohl es für den strengen Vater nur ein Buch gab (die Bibel), hatte sie selber Shakespeare und Keats und Brontë verschlungen. Als junges Mädchen lebte sie ein geselliges Leben, nahm an Schlittenpartien und Scharaden teil. Erst als ihre Freundinnen anfingen zu heiraten, merkte sie offenbar, dass sie anders war. Als „einziges Känguru im Schönen“ beschrieb sie sich.

Aber sie war nicht allein. Nach dem Tod der offenbar nicht sehr warmherzigen Eltern teilte sie sich das große Haus, das heute Museum ist, mit der ebenfalls unverheirateten Schwester Lavinia. Gleich nebenan wohnte der geliebte Bruder Austin mit seiner Frau Susan, die ihre engste Freundin war und der sie zu Lebzeiten viele Gedichten schickte, in ihrem Anwesen „Evergreens“.

Da endete der Hausfrieden allerdings schon. Austin legte sich nämlich eine Geliebte zu, mit der er regelmäßig im Esszimmer der Schwestern schlief. Mabel Loomis Todd, die nach Emilys Tod deren Lyrik zum ersten Mal veröffentlichte, kannte die Poetin nur vom Hören: Bei ihren Unterhaltungen blieb Emily Dickinson hinter der verschlossenen Tür, ein Phantom, das zum Abschluss des Gesprächs dem Gast vom Dienstmädchen ein Glas Sherry, eine Blume oder ein Gedicht servieren ließ. Dickinson, so die Literaturwissenschaftlerin Diana Fuss, hatte einen feinen Sinn für Theatralisches. So trat sie vorzugsweise in weißem Kleid auf – weshalb sie in Amherst den Spitznamen „weiße Nonne“ trug.

Ihre Geschwister fanden ihren radikalen Rückzug nicht wunderlich. Jeder von ihnen habe seine Aufgabe, erklärte Schwester Lavinia, und Emilys Job war es zu denken. Auf ihrem Totenschein stand unter „Beruf“: Zuhause.

An Stoff mangelt es ihr dort nicht. Da ist der Blick aus dem Fenster: „Schauen Sie heut Nacht hinaus“, empfiehlt Emily einem Briefpartner, „Der Mond kutschiert wie ein Mädchen –/ durch eine Stadt aus Topas.“ Und das Interieur: Allein die Türen, die sich in den Versen ständig öffnen und schließen. Für Diana Fuss sind sie eine zentrale Metapher in der selbst gezimmerten Welt der Emily, für Einsamkeit, Abschied, Tod, aber auch für Erinnerungen, Abgeschiedenheit, Sicherheit. Die Türschwelle als „feine Linie zwischen dem Endlichen und Unendlichen, dem Sterblichen und Unsterblichen, dem Menschlichen und Göttlichen“, so Fuss. Als Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten.

Zum Einstieg sehr empfehlenswert sind die beiden Taschenbücher „Wilde Nächte. Ein Leben in Briefen“ (S. Fischer) und „Guten Morgen, Mitternacht. Zweisprachige Gedichte und Briefe“ (Diogenes).

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false