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Bretter, die Berlin bedeuten: Hier sitzen Herr Grundeis (Folke Paulsen) und Emil (Iljà Pletner) in dem äußerst variablen Bühnenbild.

© Jörg Metzner

„Emil und die Detektive“ im Atze Musiktheater: Kolossal!

Kinder, seid mutig: Thomas Sutter verwandelt Erich Kästners Kinder-Klassiker in eine klingende Hymne auf Berlin.

Echt unglaublich – aber Erich Kästners Kinderbuch „Emil und die Detektive“ ist tatsächlich vor 88 Jahren erstmals erschienen. Und doch könnte sich die Geschichte um den Jungen aus der Provinz, dem eine Wilmersdorfer Görengang hilft, das Geld wiederzubekommen, das ihm auf der Zugfahrt nach Berlin geklaut wurde, auch heute noch fast genauso abspielen wie 1929.

Oder vielleicht doch nicht? Denn wenn Hupen-Gustav mal wieder mit abgeknicktem Kopf über seinem Smartphone gehangen hätte, um „Clash of Clans“ zu spielen oder den Klassen-Chat vollzuspammen, so wie das Heranwachsende im Jahr 2016 in ihrer Freizeit gewöhnlicherweise tun, dann wäre ihm Emil höchstwahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Wie er da hinter einem Kiosk hockt, um Herrn Grundeis zu observieren, den Dieb, der sich gerade im Café Josty – auf Emils Kosten! – ein Heißgetränk schmecken lässt. Und folglich wäre die ganze wunderbare Geschichte von den mutigen Kindern, die sich selbst mehr zutrauen, als es Erwachsene je tun würden, gar nicht erst in Fahrt gekommen.

Sutters Musical befindet sich im Schwebezustand: zwischen Gegenwart und Vergangenheit

Also hat sich Thomas Sutter, der Gründer des Atze Musiktheaters, bewusst dafür entschieden, dass keine Handys vorkommen, als er sich an die Adaption des Klassikers für sein Haus machte. Was dazu führte, dass sich das Stück nun in einem merkwürdigen Schwebezustand zwischen Gegenwart und Vergangenheit bewegt, der sich auch in den Kostümen von Marie Landgraf widerspiegelt: Da gibt es sowohl Hosenträger und Zwanziger-Jahre-Ballonmützen als auch Basecaps und Spraydosen. Emil beschmiert nämlich im heimischen Neustadt nicht, wie bei Kästner, ein Kaiserdenkmal, sondern hinterlässt einen knallroten „Nazis raus“- Schriftzug an der Rathauswand.

Gleichzeitig schleppt der Protagonist einen altmodischen Koffer mit sich herum, und der Schriftzug des „Hotel Kreid“, in dem Grundeis absteigt, ist purer Art-déco-Stil. Emils Oma wiederum ist keine manische Satzwiederholerin wie im Original, sondern hat Alzheimer. Außerdem geht es zwischen den Kids politisch hundertprozentig korrekt und pädagogisch holzhammerwertvoll zu: Aus Kästners Jungsclique wurde eine Truppe, in der auch Mädchen mitmachen dürfen, Gustav ist ein Farbiger, der „Professor“ kann sich nur in Gebärdensprache verständigen – die alle anderen erstaunlicherweise verstehen. Und wenn Pony Hütchen mit einem Stullenpaket anrückt, dann liegen neben den Leberwurstbroten natürlich auch welche mit Käse darin – „für die, die Vegetarier sind“.

Kein Problem: Die Schauspieler verfallen zwischendurch immer wieder ins Singen

Diese szenische Zwittrigkeit, das inhaltliche Sowohl-als-auch passen zu jener ganz eigenen Art von Musiktheater, die Thomas Sutter in den letzten Jahren entwickelt hat. Anders als im konventionellen Musical, wo die einzelnen Songs jeweils den Fortgang der Handlung ausbremsen, greifen hier Musik und Text so eng ineinander, dass es die Zuschauer überhaupt nicht als künstlich empfinden, wenn die Schauspieler zwischendurch immer wieder ins Singen verfallen.

Sutter sind aber auch zwei wirkliche Ohrwürmer gelungen, „Parole Emil“, eine rhythmisch prägnante Nummer, die auch gleich zur Tanzszene ausgebaut wird (Choreografie: Katja Richter), sowie eine rührende Hymne auf Berlin und seine Jugend – die übrigens zuerst von Herrn Grundeis vorgetragen wird. Folke Paulsen zeigt den Gauner als vielschichtigen Charakter, der durchaus Charme versprühen kann, wenn er sich davon Nutzen verspricht.

Mit zweieinhalb Stunden Aufführungsdauer traut Thomas Sutter seinen jungen Zuschauern – „Emil und die Detektive“ ist ab sechs Jahren empfohlen – eine deutlich längere Aufmerksamkeitsspanne zu als die Regisseure im Erwachsenentheater, wo mittlerweile pausenlose Neunzigminüter die Norm sind. Sutter hat aber auch ein tolles Ensemble, das unermüdlich über Jochen G. Hochfelds archaisch anmutende, aber überraschend variable Bretterbühne turnt und tollt: Überall öffnen sich hier Luken, lassen sich Platten beiseiteschrieben, um die vielen Orte der Handlung anzudeuten.

Es gibt szenische Überblendungen, pantomimische Passagen und einen spannenden nächtlichen Taschenlampen-Bewegungschor. Fast alle Darsteller übernehmen mehrere Rollen – und spielen auch noch Instrumente. Iljá Pletner greift als Emil zur Gitarre, Aciel Martinez Pól setzt als Gustav statt einer Hupe seine Kopfstimmen-Sirene ein und die Komponistin Sinem Altan steuert so manche atmosphärisch gut getroffene Klangmalerei für Cello, Akkordeon und Schlagwerk bei. Um es mit Emils Lieblingswort zu sagen, auch wenn es nur bei Erich Kästner vorkommt: „Kolossal!“

Nächste Vorstellungen vom 10. bis 12. 1. sowie am 14., 26. und 28. 1. Weitere Termine bis Juli: www.atzeberlin.de

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