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Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) verliert sich als Joker allmählich in seinen Wahnfantasien.

© dpa/ Niko Tavernise

Elf Nominierungen für "Joker" bei den Oscars 2020: Unnötiger Gewaltexzess oder cineastisches Meisterwerk?

Der „Joker“ legt einen Rekordstart an den US-Kinokassen hin und entfacht in Amerika eine Debatte: Wie nah an der Realität dürfen Gewaltbilder sein.

„Ist das echt oder ein Clown-Ding?“ wird Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) gefragt, als er in einer Situation, die eher zum Heulen ist, in Gelächter ausbricht. Für den traurigen Mann, dem die Mutter als Kind den Spitznamen „Happy“ gab, ist die Frage ein Schlag ins Gesicht. Das Lachen ist schließlich sein Metier, als Clown man kann ihn zur Aufheiterung kranker Kinder mieten. Doch dieses Lachen liegt außerhalb jedes Programms. Anfallartig nimmt es von seinem ausgemergelten Körper Besitz, schüttelt und würgt ihn, fast droht er an ihm zu ersticken.

Flecks Störung, die ihn in den Augen der Gesellschaft zum Freak macht, ist in Todd Phillips’ „Joker“, der „Origin-Story“ des Batman-Erzfeindes, mehr als die Signatur einer Comic-Ikone. Der Joker hat sich in seiner 80-jährigen Geschichte immer neu konfiguriert: von närrisch über hysterisch bis hin zu psychotisch – und genuin böse. Bei Phillips hingegen findet sich die Tragödie eines Lebens in diesem maskierten Schluchzen gebündelt.

Seit „Joker“ beim Filmfestival in Venedig den Hauptpreis gewann – und inzwischen auch als aussichtsreicher Oscar-Kandidat gilt –, hat er in den USA eine neuerliche Debatte um die Darstellung von Gewalt im Kino entfacht. Angehörige der Opfer des Amoklaufs von Aurora im Jahr 2012, bei dem der Attentäter während der Premiere des Batman-Films „The Dark Knight Returns“ zwölf Menschen tötete, äußerten in einem offenen Brief an Warner Bros. ihre Besorgnis, die Joker-Figur könne Nachahmungstäter animieren. Sie appellierten an das Studio, sich für Waffenkontrollen einzusetzen.

Identifikationsfigur für Hasskultur im Netz?

Alarmistische Töne sind auch in den sozialen Medien und vonseiten der Filmkritik zu hören. Mit dem in seiner gesellschaftlichen Isolation irre gewordenen Einzelgänger, den die „Abgehängten“ von Gotham für seine Taten feiern, habe Phillips eine Identifikationsfigur für die Hasskultur im Netz kreiert. Am vergangenen Startwochenende klagten auch Kinobesucher in den sozialen Medien über schwer erträgliche Gewaltbilder. Doch die Gewalt wirkt in „Joker“ vor allem deswegen so drastisch, da Phillips sie im Modus eines filmischen Realismus austrägt, der mit der Logik des Comics radikal bricht.

Tatsächlich spricht Phoenix’ Figur, anders auch als der übersteuert gezeichnete Joker von Heath Ledger, unmittelbar in unsere aufgewühlte Gegenwart hinein. Doch als Modell einer Rache- oder Ermächtigungsfantasie dient sich sein Arthur Fleck selbst dann nicht an, wenn er sich in der Rolle des mordenden Clowns endlich von der Welt akzeptiert sieht.

Der Joker ist ein psychisch labiler Mann

Der „Clown Prince of Crime“ ist bei Phillips ein psychisch labiler Mann, den das Leben in Gotham City zu Boden drückt. Am Anfang wird Fleck von einer Gruppe Jugendlicher auf der Straße verprügelt, das Werbeschild, das dabei zu Bruch geht, muss er später auf eigene Kosten ersetzen. Und nicht nur das: Man kündigt ihm seinen Job, streicht ihm die Therapie und Psychopharmaka (eine Folge der Sozialkürzungen der beginnenden 1980er Jahre), seine bedürftige Mutter Penny (Frances Conroy) belügt ihn, betrunkene Yuppies drangsalieren ihn in der U-Bahn. Sogar der von ihm verehrte Talkshow-Moderator Murray Franklin (Robert de Niro) macht Fleck, der von einer Karriere als Comedian träumt, vor seinem Live-Publikum lächerlich. Eine Waffe, beiläufig von einem Arbeitskollegen zugesteckt, bringt seine Passionsgeschichte schließlich zum Kippen.

In den DC Comics hatte der Joker entweder keine Herkunft beziehungsweise geriet die Figur mit widersprechenden Erzählungen über die Umstände seiner Fratze (Chemieunfall, väterliche Gewalt, Selbstverstümmelung) ins Schillern. Der Pflicht zur unverlässlichen Figur ist Phillips’ Verfilmung von vornherein enthoben, sein „Joker“ versteht sich als singuläre Auskopplung aus dem DC Extended Universe. Fortsetzungen sind nicht geplant. Als Spin-off eröffnen sich ganz neue Freiheiten, der Film macht davon Gebrauch.

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Todd Phillips, ein Spezialist für homosoziale Männergemeinschaften (bekannt wurde er mit der „Hangover“-Trilogie), erzählt die Entstehungsgeschichte der Titelfigur am Superheldenkino vorbei. Sichtbares Vorbild sind die düsteren Charakterstudien, die Martin Scorsese in den 70er und 80er Jahren inszenierte, „Taxi Driver“ und „The King of Comedy“. Doch die virile Energie der soziopathischen Scorsese-Figuren weicht in „Joker“ der Apathie einer tiefen Depression, die in angegammelten Braun-, Ocker- und Orangetönen und einem kränklich-bläulichen Licht ihre visuelle Entsprechung findet.

Gotham City wird von einer Rattenplage heimgesucht

Von den raffinierten moralischen Ambivalenzen, die „Taxi Driver“ so beunruhigend machten, ist „Joker“ ein gutes Stück entfernt. Phillips skizziert die Gesellschaft mit eher groben Strichen. Die Stadt versinkt im Müll, eine „Superratten“-Plage grassiert. An der Macht sind empathielose Unternehmertypen wie Thomas Wayne – der Vater des kleinen Bruce Wayne (auch einer, der wenig zu lachen hat), die den weniger Privilegierten mit kalter Verachtung begegnen.

Flecks Kindheit wiederum ist gezeichnet von der Abwesenheit des Vaters, der schizophrenen Mutter und des sexuellen Missbrauchs. Der Verzicht auf Subtilität ist für den Film jedoch kein Schaden. Umso feinnerviger zeichnet sich das Körperspiel von Joaquin Phoenix in das düstere Psychogramm hinein. Das Lachen in den verschiedensten Modulationen – es gibt auch ein scheues, das von Herzen kommt – gehört ebenso dazu wie das Gehen und seine tänzerischen Einlagen.

Im Kokon geschützt vor der Wirklichkeit

Mit Füßen wie aus Blei schleppt sich Arthur Fleck in seiner schlammfarbenen Jacke mühsam die Stufen von Gotham City hinauf, die sich ihm in seiner neuen Vigilanten-Rolle plötzlich als Showtreppe für seine erratischen Auftritte anbieten. Die Deformation zum gefährlichen Täter macht etwas mit seinem Bewegungsapparat. Flecks anfänglich abgehackte, verhuschte Gesten werden flüssiger und artikulierter, die Bewegungen elastischer.

Einmal vollführt der Joker einen selbstversunkenen Tanz, bei dem sich sein Körper langsam dreht und windet, während er mit den Armen zärtliche Wellenbewegungen in die Luft zeichnet. Seine spindelig-insektenhafte Körperlichkeit streift er dabei ab wie einen Kokon – und häutet sich gleichzeitig von den letzten Schichten des Wirklichkeitsbezugs. Es ist echt, und es ist ein „Clown-Ding“.

„Schickt die Clowns rein“, heißt es beim Zirkus, wenn in der Manege etwas schiefgegangen ist und das Publikum mit einer lustigen Nummer abgelenkt werden soll. „Send in the Clowns“ heißt auch ein sehr schönes, melancholisches Lied, das die Redensart auf die Manege des Lebens überträgt, gesungen wird es unter anderem von Frank Sinatra. „But where are the clowns? There ought to be clowns ...“, singt er am Ende von „Joker“, nachdem der entfesselte Mob von Gotham City mit Clownsmasken die Stadt in Schutt und Asche gelegt hat.

Esther Buss

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