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Gute, alte Zeit. Am Stephansplatz in Wien, 1914.

© picture-alliance / IMAGNO/Austri

Arthur Schnitzler: Ein Arzt in Auflösung

Arne Karsten widmet dem Dramatiker Arthur Schnitzler und dem Untergang der Donaumonarchie ein kenntnisreiches Buch.

Der Titel ist eine Anspielung auf Stefan Zweigs Erinnerungen, „Die Welt von gestern“. Arne Karsten, der in Wuppertal lehrende Historiker, macht es jedoch deutlicher und nennt sein Buch „Der Untergang der Welt von gestern. Wien und die k.u.k. Monarchie 1911-1919“. Allerdings handelt es sich nicht um eine Darstellung des Zerfalls von „Kakanien“, wie Robert Musil die Doppelmonarchie nannte, sondern um eine Episode aus dem Leben eines dritten Dichters, des Dramatikers (und Arztes) Arthur Schnitzler, in der sich die Geschichte der Donaumonarchie abbildet.

Will man diese Episode kennen? Zunächst: nicht unbedingt. Es geht um die Beziehung Schnitzlers zu einer aus großbürgerlichem Hause stammenden jungen Frau, Stephanie Bachrach, in Schnitzlers Tagebüchern meist „Stephi“ genannt. Zu ihr unterhielt der Dichter von 1911 bis zum Selbstmord Stephis sechs Jahre später keine erotische, sondern eine geistig-musische Beziehung. Karsten ist auf diese Geschichte bei der Lektüre der Tagebücher gestoßen.

Stephanie Bachrach tritt auf

Aber, und nun wird es spannend, er nimmt sie, um zu zeigen, wie sich „der Untergang der ,Welt von gestern’ in den Augen jener abspielte, die ihn nicht als notwendiges Übel auf dem Weg in eine strahlende Zukunft wahrnahmen, sondern als Ergebnis von Zerstörungs- und Auflösungsprozessen“.

Stephanie Bachrach also steht nicht im Mittelpunkt. Dazu ist auch die Materiallage zu dünn. Von ihr ist nahezu nichts Schriftliches überliefert; sie existiert quasi nur, soweit Schnitzler sie im Tagebuch erwähnt. Ihr durch Börsenhandel reich gewordener Vater hatte eine Villa im neureichen Wiener „Cottage-Viertel“ bezogen, wo auch Schnitzler sich 1910/11 ein Haus leisten konnte; so kam die nachbarliche Bekanntschaft des 49-Jährigen zur halb so alten, standesgemäß erzogenen Tochter zustande.

Allerdings gingen das Bachrach’sche Vermögen und damit die gesicherte Zukunft der Kinder bereits in der ausbrechenden Finanzkrise von 1912 verloren. Die persönliche Beziehung zu Schnitzler blieb, und die in den Tagebüchern auftretenden Personen machen deutlich, ein wie enges Geflecht die großbürgerlichen und die künstlerischen Kreise bildeten – in denen der Dichter denn auch Anschauungsmaterial für seine eigene Produktion gewann.

Ein hellsichtiger Beobachter

Nun ist Karstens – im Übrigen glänzend geschriebenes – Buch keine Schnitzler-Monografie, sondern löst den Anspruch des Autors ein, die Verfallsgeschichte Österreich-Ungarns als Bezugsrahmen zu schildern. Karsten hat die einschlägige Fachliteratur studiert und greift, wo nötig, auf Standardwerke wie die von Konrad Canis oder Manfried Rauchensteiner zurück. Einem Leser, der weder mit der Schnitzler-Forschung vertraut ist noch die verwickelte und unter Historikern höchst umstrittene Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkriegs parat hat, bietet das Buch eine Fülle von Einsichten in die Endphase „Kakaniens“.

Die subjektive Perspektive des wohlsituierten Arztes Schnitzler, wenngleich „einer der sensibelsten und psychologisch hellsichtigsten Diagnostiker der spätbürgerlichen ,Welt von gestern’“, spielt daher keine übermächtige Rolle, zumal Karsten eine Fülle weiterer Zeitzeugen zu Wort kommen lässt. Eine wahre Fundgrube sind die Erinnerungen des vor1938 bedeutenden Wiener Feuilletonisten Raoul Auernheimer, der – wie Schnitzler – zum Kreis des Dichterzirkels „Jung Wien“ zählte. Eine kleine, aber erhellende Nebengeschichte ist die der verdeckten, heftigen Konkurrenz innerhalb dieses Kreises, und die Missgunst, die Schnitzler bei Kollegen wie Jakob Wassermann spürt. Sie wird in seinen Notizen als ein Grund für die Hinwendung zu der vorurteilsfreien Stephanie ersichtlich.

Dem Vergleich standgehalten

Man kann, wenn man Arne Karstens atmosphärisch dichte Schilderung der Wiener Befindlichkeit in den 1910er Jahren überprüfen will, gerne Carl E. Schorskes Essaysammlung „Fin-de-siècle Vienna“ daneben legen, die dem Autor 1981 den Pulitzer-Preis eintrug. Sie hebt übrigens an mit einem Aufsatz über Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal von 1961, als der kultur- und mentalitätsgeschichtliche Blick noch die rare Ausnahme war. Schade, dass Karsten die beiden Textsammlungen von Edgard Hainer über Wien in den Jahren 1914 und 1918 entgangen sind, die so viel Anschauungsmaterial zu Alltag und Eigenart der k.u.k. Monarchie bieten; aber ohnehin ist die Wien-Literatur so umfangreich, dass kein einzelnes Buch sie rezipieren könnte.

Ein Selbstmord als Fanal des Untergangs

Stephanie Bachrach begeht nach verwickeltem persönlichen Hin und Her schließlich Selbstmord. Zuletzt war sie als Arzthelferin im Kriegsspital Grinzing tätig, nachdem sie im galizischen Lemberg das ganze Ausmaß der Kriegsschrecken hatte erleben müssen. Karsten spricht etwas ungnädig von der „galoppierenden Zerrüttung einer einstmals strahlenden Persönlichkeit unter dem Druck der gesellschaftlichen Umstände“. Es war dann doch eher der Krieg, der alle Verhältnisse durcheinanderwirbelte.

Bezeichnenderweise erwähnt der Arzt Schnitzler im Tagebuch ein früheres Gespräch „über die seelischen Störungen der Frauen in dieser Zeit“. Nun kommt Karstens Buch mit Stephi zwar die Bezugsperson abhanden, sodass das Schlusskapitel, „Spiegelungen und Nachklänge“, über Schnitzlers spätere literarische Werke etwas gezwungen wirkt. Aber bis dahin hat der Leser auf anregendste Weise erfahren können, was Karl Kraus meinte, als er Wien genau zu dieser Zeit die „Versuchsstation des Weltuntergangs“ nannte.
Arne Karsten: Der Untergang der Welt von gestern. Wien und die k.u.k. Monarchie 1911–1919. C.H. Beck, München 2019. 269 S., Abb., 26,95 €.

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