zum Hauptinhalt
Es scheint, als habe den bürgerlichen Mittelstand die Lust am eigenen Schmerz erfasst.

© AFP/Peter Parks

Eine kleine Kulturgeschichte des Tattoos: Eine der einschneidendsten, einstechendsten Erscheinungen

Im Sommer sieht man’s besser: Immer mehr Menschen lassen sich tätowieren. Eine breite gesellschaftliche Debatte über die Folgen gibt es nicht. Zur Geschichte eines Massenphänomens.

Auch dieser Sommer, so schaut es aus, wird wieder groß und bunt. Mit viel entblößter, sehr bunter Haut. Als hätte ein wachsender Teil der Menschheit sich mehr und mehr in Bilder und Zeichen gehüllt. Doch die Maskerade geht tiefer, sie lässt sich anders als im Theater nicht ablegen oder abwaschen. Denn unter den Masken fließt gleich das Blut.

Manchmal gibt es, wie im Holländischen Viertel in Potsdam, schon das: an einer Hausfassade das Schild „Institut für Körperkunst“, wenige Schritte weiter ein „Institut für Körperwohl“. Einmal ein Tattoo-Laden, der Nachbar hingegen verheißt just das Gegenteil: die Entfernung von Tätowierungen. Beide Geschäfte dürften florieren. Doch dass eine „Kunst“ hier im Gegensatz zum menschlichen „Wohl“ zu stehen scheint, ja, dass im zweiten Fall gar die Heilung von (zu viel) Kunst annonciert wird, gibt zu denken.

Merkwürdig, wie vergleichsweise selten öffentlich über Tattoos geredet oder geschrieben wird. Hat es dazu schon mal eine öffentlich-rechtliche Talkshow gegeben? Natürlich gibt’s ein bisschen Bohei, wenn sich auf einem Stück bloßer Haut bei der Gattin eines Bundespräsidenten ein kleines Tattoo zeigt (der Fall Bettina Wulff). Oder wenn Film- und Popstars wie Angelina Jolie und Justin Biber religiöse oder mythologische Bild- und Schriftzeichen mit ihrer Haut zur Schau stellen. Wie auch ein Gutteil der Fußballprofis, ob männlich oder weiblich – und wie inzwischen angeblich jeder vierte Amerikaner und Deutsche jeden Geschlechts über 18 Jahre.

Bildbände existieren, bizarre Fachmagazine, und im Kino lief jüngst die Filmdoku „Ink of Jam“ über den Laden zweier russischstämmiger Juden in der Altstadt von Jerusalem. Dort hat das Körperstechen mit zumeist religiösen Inbildern ohnehin Tradition, weil schon die Kreuzritter sich ihre martialische Pilgerschaft ins Heilige Land gerne mit eintätowierten Kreuzzeichen und anderen Symbolen bescheinigen ließen.

Trotzdem fehlt über das Massenphänomen Tattoos eine gesellschaftliche Debatte. Dabei ist es eine der einschneidendsten, einstechendsten Erscheinungen, die unsere Gesellschaft in den letzten gut zwanzig Jahren am ureigenen Leib erfährt. Wenn es zu Diskussionen kommt, dann geht es meist nur um Einzelfälle und den Inhalt, die womöglich politische Botschaft einer Hautgravur. So, als vor einigen Jahren der russische Opernsänger Evgeny Nikitin wegen eines angeblichen Hakenkreuzes auf der Brust bei den Bayreuther Festspielen aus dem „Fliegenden Holländer“ flog.

Die Polizei sagt, sie sei "im 21. Jahrhundert angekommen"

Für die Betroffenen wichtig sind gewiss die arbeitsrechtlichen Fragen – nicht direkt vergleichbar, aber doch nicht ganz unähnlich dem Kopftuchproblem. Im öffentlichen Dienst war es beispielsweise Polizisten jahrelang untersagt, ersichtliche Tattoos zu tragen. Solche Verbote sind in Bayern weiterhin gerichtlich bestätigt, während Polizisten in Berlin seit 2018 Tätowierungen zeigen dürfen, wenn diese nicht politisch, sexistisch oder sonst wie anstößig wirken. Worauf die Berliner Polizeigewerkschaft jubelte, „dass wir endlich im 21. Jahrhundert angekommen sind“.

Tattoos gab es freilich schon in viel früheren Zeiten. Der legendäre Ötzi trug sie, aus womöglich medizinischem Aberglauben, vor 5000 Jahren. Und als James Cook von seiner zweiten Südseereise 1774 aus Tahiti den Prinzen Omai als seinen (angeblich freiwilligen) Begleiter nach England mitbrachte, bot sich der junge Fremde in fantastisch buntem Hautschmuck dar. In ganz Europa war das eine Sensation, Omai wurde zu einer Art Popstar der vornehmlich adeligen Gesellschaft. Es erschienen Romane und Theaterstücke über ihn, von August von Kotzebue auch eine deutsche Version – und das Wort „tatau“, das im Tahitianischen wohl „eine Wunde zufügen“ meint, geriet als „tattoo“ oder „tatou“ durch das Englische und Französische auch in unseren Sprachgebrauch.

Tätowierungen galten als exotische Attraktion und lösten doch zwiespältige Gefühle aus. Wie beim jungen Goethe, der in einem Brief an Charlotte von Stein 1784 Soldaten, die aus Amerika mit Tätowierungen zurückkamen, als „degoutant“ empfand und später in seinen Altersaphorismen urteilte: „Bemalung und Punctierung der Körper ist eine Rückkehr zur Tierheit.“ Andererseits dichtete er in seinem „Wilhelm Meister“-Roman 1795/96 der anrührenden Mignon „auf den zarten Armen mit vielen Hundert Punkten sehr zierlich abgebildet“ ein tätowiertes Kruzifix zum guten Zeichen an.

Mignon allerdings stammte aus dem „fahrenden Volk“. Und Tätowierungen waren bis weit ins 20. Jahrhundert vornehmlich ein Schmuck von Seeleuten, Huren, Strafgefangenen, gesellschaftlichen Außenseitern bis hin zu den Skins oder etwa in Japan von Geheimbünden oder kriminellen Vereinen. Makaber bis entsetzlich auch: die tätowierten Zahlen im Unterarm von KZ-Häftlingen oder die Erkennungsrunen von SS-Leuten.

Das Tattoo ist längst keine Botschaft der Außenseiter mehr

Es scheint, als habe den bürgerlichen Mittelstand die Lust am eigenen Schmerz erfasst.
Es scheint, als habe den bürgerlichen Mittelstand die Lust am eigenen Schmerz erfasst.

© AFP/Peter Parks

Gewiss gab es immer Ausnahmen. Egon Erwin Kisch stellte sich als „Rasender Reporter“ in „Meine Tätowierungen“ stolz als hautnaher Freund auch von einschlägigen Körperkerlen (und Damen) dar, weshalb ihn der Maler Christian Schad 1928 mit nacktem Oberkörper porträtiert hat. Worauf man erkennt, dass Kisch unter anderem einen tief in in ihn eingedrungenen Dolch genau überm Herzen trug. Etwa zwei Dutzend einschlägige Geschichten hat vor ein paar Jahren auch die Anthologie „Das Herz auf der Haut“ im hafennahen Hamburger mare-Verlag gesammelt, denn in Büchern von Herman Melville, Sylvia Plath oder John Irving spielt das Thema bisweilen eine Rolle.

Heute ist das Tattoo längst keine Botschaft der Außenseiter mehr. Es ist eine – zumal von den digitalen Netzwerken verstärkte – Mode der Massen. Oft gehen damit auch Piercings und Tätowierungen bis in die Intimzonen einher, was Umkleidekabinen, Saunas oder Badestrände enthüllen.

Fast will es so scheinen, als habe den bürgerlichen Mittelstand die Lust am eigenen Schmerz erfasst. Denn zum Tätowiertsein gehört, je nach Umfang, auch allerhand Masochismus. Lange vorbei sind die Zeiten nur trauter Herzen, der eingravierten Liebesnamen und Treueschwüre, der Schiffsanker, exotischen Pflanzen und Blumen, der kleinen Schlangen oder selbst der leicht ordinären „Arschgeweihe“. Der Trend geht vom einzelnen oder verstreuten Ornament hin zur Ganzkörperbemalung, bis über Kopf und Gesicht. Selbst Augapfeltattoos sind da, ungeachtet der ätzenden Gefahr für das empfindliche Sehorgan, kein Tabu mehr.

Die tintenschwarzen Zurichtungen strahlen mehr und mehr etwas Aggressives aus

Hierbei fällt auf, dass die immer dunkleren, tintenschwarzen Zurichtungen mehr und mehr etwas Aggressives ausstrahlen. Sie gleichen schon Kriegsbemalungen. Der alte Frieden mit den alten, natürlichen Körpern reicht offenbar nicht mehr aus. Gesichter und Oberkörper beginnen sich in den Anblick von Maschinenmenschen, Maschinenmonstern wie aus Science-Fiction-Filmen zu verwandeln. Während die Robotikdesigner ihre neuen Wesen äußerlich möglichst raffiniert dem Menschen angleichen, sucht der tätowierte Mensch der eigenen Haut, dem natürlichen Selbst möglichst weit und grell zu entkommen. Ohne darüber morgens vorm Spiegel noch zu erschrecken. Oder manchmal doch?

Kürzlich habe ich in einem Berliner Strandbad einen haarlosen Mann beobachtet, der von den Fußsohlen bis über den kahlen Kopf hinweg mit dunklen Tinten überzogen war. Außer den Augen und Lippen war da kein Fleck natürlicher Haut mehr. Der düstere Mann lag auf einem Handtuch bei über 30 Grad in der prallen Sonne und las ein dunkelblaues Suhrkamp-Taschenbuch. Ich trat näher, um den Titel zu erkennen: Adornos „Negative Dialektik“. Es war kein Witz. Es war nur ein bisschen: hirnverbrannt.

Das denken auch Hautärzte. Wer in jüngeren Jahren seinen Körper so großflächig mit Tätowierungen überzieht, hat später kaum noch die Chance zu grundlegenden Veränderungen – außer um den Preis unzähliger Laserbehandlungen. Mit bis zu fünfstelligen Kosten, die keine Krankenkasse bezahlt. Und mit noch unabsehbaren Gesundheitsrisiken durch Entzündungen, Infektionen, durch karzinogene Farbstoffe, durch kaum zu betäubende Schmerzen. Auch können Sonnenbrände und weiter gehende Hautschäden durch die Betroffenen oder selbst Ärzte nicht oder nur erschwert kontrolliert werden; Anzeichen etwa für ein Melanom (schwarzer Hautkrebs) sind unter den dunklen Tätowierungen schwerlich zu erkennen.

Eine Volksmode droht so zur neuen Volkskrankheit zu werden. Für diese Diagnose muss man nicht Doktor Kassandra sein. Darum heißt ein englisches Sprichwort, ganz simpel: „Think before you ink!“

Zur Startseite