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Kultur: Eine Frage des Muts

Heute kaum bekannt, morgen vielleicht ein Star: Sandra Hüller spielt die Hauptrolle in Hans-Christian Schmids „Requiem“

Eine Studentenfete in Tübingen, flackerndes Diskolicht, Gedränge auf der Tanzfläche, und mittendrin eine junge Frau: Die Haare fliegen, das Lächeln verschwimmt im Vorüberdrehen, Hingabe an die Musik, der Rausch der Freiheit, das Glück der ersten Liebe – oder schon der Anfang vom Ende, Ekstase, Entäußerung? Wie viel Selbstverlust steckt in Zügellosigkeit, wie viel Wahnsinn in Leidenschaft?

Wie er Sandra Hüller kennen lernte, hat Regisseur Hans-Christian Schmid in einem Gespräch erzählt: dass da eine Schauspielerin zum Casting gekommen sei, und bei der ersten Probe sollte sie tanzen, stand zwei Minuten herum, fing dann an – und steigerte sich irgendwann so hinein, dass ihr die Tränen aus den Augen liefen. „Intensiv“, ja, „sehr intensiv“ sei das gewesen, sagt Hans-Christian Schmid.

Ekstase, Rausch, Zügellosigkeit ist nicht das, was man auf den ersten Blick mit Sandra Hüller verbindet, wie sie da mittags in einem Berliner Hotel sitzt, zum Halbstunden-Durchlauf-Interview vor der Berlinale. Intensität schon eher, unbedingt, und Konzentration, und eine große, noch nicht abgestumpfte Ernsthaftigkeit, mit der sie nachdenkt, neu ansetzt, antwortet. Dass sie sich in Dinge hineinsteigern kann, bis ihr die Tränen kommen, glaubt man sofort: „Ja“, sagt Sandra Hüller, „ich habe viel Fantasie.“

Die 27-jährige Theaterschauspielerin, geboren in Suhl, ausgebildet an der Berliner Ernst-Busch-Hochschule, spielt die Hauptrolle im Wettbewerbsbeitrag „Requiem“ von Hans-Christian Schmid. Es ist ihre erste große Kinorolle, und es ist, so viel kann man vorhersagen, ihr Durchbruch. Den Bayerischen Filmpreis als beste Nachwuchsschauspielerin hat sie erhalten. Den Silbernen Bären als beste Schauspielerin hätte sie verdient.

„Requiem“ erzählt, im ländlichen Schwaben der siebziger Jahre und nach einem wahren Fall, die Leidensgeschichte einer jungen Frau zwischen Medizin und Religion. Sandra Hüller spielt diese Michaela Klingler: willensstark, eigensinnig, rebellisch. Und gläubig, gehorsam, geduldig, zunächst. Eine brave Tochter, ein widerspenstiges Kind. Eine Christin, die in der Kapelle um Zulassung zur Uni betet, und gleichzeitig voller Zweifel ist, voller Zorn. Irgendwann entscheidet nicht mehr sie selbst, sondern der Dämon Krankheit, der sie im Griff hat: krümmt ihren Körper, lässt die Hand zur Kralle werden, das Gesicht zur Fratze.

Woher diese Kraft? Woher die Selbstsicherheit einer Rolle gegenüber, die vor allem Selbstverleugnung erfordert? Sandra Hüller erzählt von der Ruhe, dem geschützten Raum, den der in Berlin lebende Regisseur Hans-Christian Schmid („Nach fünf im Urwald“, „Crazy“, „Lichter“) um seine Schauspieler aufbaut. Von der Nähe am Set, der Klassenfahrt-Atmosphäre. Von ausführlicher Lektüre und Vorbereitung. Und, immer wieder, auch von Zweifeln: Glaubt man mir das, was ich spiele? „Ich muss mir vorstellen, dass Michaela wirklich diese Erscheinungen hat, und muss genauso wie sie daran glauben, dass man die beheben kann, indem man einen Exorzismus durchführt. Das muss meine einzige Hoffnung sein in dem Moment, sonst würde es nicht gehen.“

Ein Schlüsselerlebnis während der Drehvorbereitungen: Einmal ist sie bei einer Freundin zu Besuch gewesen und nachts aufgewacht. Und war fest überzeugt: „Wenn ich jetzt wieder einschlafe, dann sterbe ich.“ Zu der Zeit habe sie heftig über ihre Rolle gegrübelt: Ist Michaela nun krank oder besessen, bildet sie sich alles nur ein, oder hört sie wirklich Dämonen? „Doch dieser Moment hat mir gezeigt, dass es darum gar nicht geht. Ich muss es gar nicht von außen wissen. Ich muss nur glauben, dass es für Michaela tatsächlich stattfindet. Für sie ist es real. Genauso wie für mich in diesem Moment real war, dass eine tödliche Bedrohung für mich besteht, wenn ich einfach einschlafe.“

Glauben also als Schlüssel zum Erfolg? Nein, streng gläubig im christlichen Sinn ist sie nicht. Aber den Glauben an den eigenen Körper, den muss sie haben. Besonders in den heiklen Anfall-Szenen. Nein, sie habe sich keine Filme vorher angesehen, keine Dokumentationen, nur viel gelesen über Epilepsie, und immer gewusst: „Mit dem theoretischen Wissen, das ich mir angelesen habe, weiß mein Körper, was er tun soll. Es ging nur darum, sich zu trauen: um die Überwindung, sich selbst so preiszugeben.“ Das heißt auch: sich hässlich zu zeigen, abstoßend, außer Kontrolle. Keine Angst vor Verletzungen auch. Kein Wunder, dass gerade diese Szenen nicht mehr aus dem Kopf wollen.

Ihrem Körper zu trauen, hat Sandra Hüller auf der Schauspielschule gelernt. Und am Theater: zunächst in Jena und Leipzig, seit 2002 ist sie Ensemblemitglied in Basel. Und spielt Rollen wie: Gretchen, Julia, Medea, Käthchen, die zurückgebliebene Dora in „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“. Randfiguren, gefährdete Frauen, die an etwas glauben, was die Umgebung nicht sieht. „Diese aufbrechenden Frauen, die dann letztlich ,gebrochen’ werden, sind mir oft begegnet. Die ist man irgendwann leid, weil es so viel Kraft kostet, immer aufs Neue eins aufs Maul zu bekommen. Ich hatte das Gefühl, dass Michaela ein Endpunkt ist. Etwas, dass ich so nicht mehr machen will und kann.“

Endpunkt Michaela: ein Anfang für Sandra Hüller. Nach dieser Spielzeit will sie ihr Engagement in Basel auflösen. Will weiter Filme drehen, weiter Theater spielen, aber vor allem: erst einmal Ruhe haben. „Vor zehn Jahren habe ich angefangen mit dem Schauspielstudium, danach kam direkt das erste Engagement, ich habe seitdem immer gespielt. Jetzt möchte ich einmal nicht darüber nachdenken, was als Nächstes kommt.“

SANDRA HÜLLER,

geboren 1978 in Suhl/Thüringen, studierte von 1996 bis 2000 an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch und und spielte danach in Jena und Leipzig. Heute ist sie Ensemblemitglied am Theater Basel und fiel dort als Shakespeares Julia und Goethes Gretchen auf. 2003 wurde sie von „Theater Heute“ für ihre Rolle der Dora in „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres gewählt.

Die Rolle der Michaela Klingler in Hans-Christian Schmids Provinzdrama „Requiem“

ist ihr Kinodebüt ,

für das sie mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet wurde.

„Requiem“ hat heute um 19.30 Uhr Weltpremiere im Berlinale-

Palast, morgen wird er um 12 und 18.30 Uhr

in der Urania sowie

um 22.30 Uhr im International gezeigt.

Christina Tilmann

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