zum Hauptinhalt
Die Naturschönheit der wilden Westküste Mallorcas faszinierte George Sand.

© imageBROKER/Hartmut Albert

„Ein Winter auf Mallorca“ von George Sand: Chopin war unerträglich

Flucht aus Paris: Der Reiseliteratur-Klassiker „Ein Winter auf Mallorca“ von George Sand ist in einer Neuübersetzung erschienen

Die Reise war ein fürchterlicher Flop. Dabei hatte sich Amantine Aurore Dupin de Francueil alles so schön vorgestellt. Den Winter 1838 wollte die Schriftstellerin, die unter ihrem Pseudonym George Sand zu einer Berühmtheit in der Pariser Kulturszene geworden war, mit ihren beiden Kindern in südlichen Gefilden verbringen. Vor allem, um ihrem an Rheuma leidenden 15-jährigen Sohn Maurice Linderung zu verschaffen, aber auch, um der hektischen Betriebsamkeit der französischen Hauptstadt eine Zeit lang zu entkommen. Zu ihrer Überraschung zeigte sogar ihr Geliebter Frédéric Chopin Interesse an der Wellness-Auszeit – obwohl ihn sonst bereits der Gedanke, seine Pariser Ärzte nicht in unmittelbarer Nähe zu wissen, in Panik versetzt hatte.

Unerklärlich bleibt, warum George Sand nicht die damals touristisch schon gut erschlossene Côte d’Azur als Reiseziel wählte, sondern das von jeglichem Fremdenverkehr unbeleckte Mallorca. Erst kurz zuvor war überhaupt eine Fährverbindung von Barcelona auf die Insel eingerichtet worden, in der Hauptstadt Palma gab es kein einziges Hotel. Kaum verwunderlich, dass sowohl die adligen wie auch die bürgerlichen Einheimischen der Patchworkfamilie aus Paris mit äußerstem Misstrauen begegneten. Nur mit Mühe fanden die geschiedene, alleinerziehende Mutter und der mit ihr in Sünde lebende Pianist überhaupt ein Quartier im Hinterland. Und dann begann der Regen: Wochenlang hielt die Schlechtwetterperiode an, und Chopin wurde ernsthaft krank. Das wiederum veranlasste den Vermieter, der sich vor einer Ansteckung fürchtete, zur Kündigung.

In einer ehemaligen Mönchszelle des Klosters von Valdemossa, im unzugänglichsten Gebiet der Insel, überstanden die vier Franzosen mehr schlecht als recht den Rest des Winters, bis endlich die erste Fähre zurück zum Festland ging. Auf der Überfahrt allerdings blieben sie in ihren stickigen Kajüten eingesperrt, weil das Oberdeck ausschließlich für Schweine reserviert war, damals das einzige Exportgut der mallorquinischen Landwirtschaft.

So weit entfernt von jedweder Romantik dieser Aussteiger-Trip auch verlief – das Buch, das George Sand drei Jahre später über diesen „Winter auf Mallorca“ veröffentlichte, ist zu einem Klassiker geworden. Der jetzt in einer ungekürzten und von Hermann Lindner neu übersetzten Ausgabe herausgekommen ist, sorgfältig mit Fußnoten versehen und mit zeitgenössischen Zeichnungen bebildert.

Der größte Verdienst des bibliophil aufgemachten Bändchens allerdings liegt darin, dass hier auch die passende Passage aus George Sands Autobiografie beigefügt ist. Denn mit Rücksicht auf ihren berühmten Geliebten nennt die Autorin im „Winter auf Mallorca“ den Namen Chopins kein einziges Mal. Der Pianist, der auf der Insel seine Préludes vollendete, kommt nur ganz am Rande vor, als „der Patient“ oder gar „der andere“.

In ihrem Lebensbericht dagegen berichtet Sand schonungslos, wie der kränkelnde Künstler seine Umgebung terrorisierte: „Unser Aufenthalt in der Kartause von Valdemossa war eine Folter für ihn und eine Qual für mich. So angenehm, witzig und charmant Chopin in Gesellschaft war, so unerträglich war er im Familienkreis.“

Schwärmereien über die wilde Küste

Die Naturschönheit der wilden Westküste Mallorcas faszinierte George Sand.
Die Naturschönheit der wilden Westküste Mallorcas faszinierte George Sand.

© imageBROKER/Hartmut Albert

Eher pflichtbewusst werden von George Sand Geologie und Historie Mallorcas abgearbeitet, viel animierter – und bis heute gültig – sind ihre Naturbeschreibungen, ja ihre Schwärmereien vor allem über die wilden Küstenabschnitte im Westen. Schonungslos beschreibt sie zudem die Dumpfheit der Bauern und die Ignoranz der Adligen, die in Verbindung mit erzkatholischem Dogmatismus und skrupelloser Geschäftemacherei für sie eine wahrhaft toxische Mischung ergab. Sands Balearen-Bashing liest sich natürlich äußerst unterhaltsam, auch wenn die garstigen Insulaner des frühen 19. Jahrhunderts nichts mit den gastlichen Dienstleistern von heute zu tun haben.

Letztlich aber ist „Ein Winter auf Mallorca“ kein Reiseführer, sondern eine Sozialreportage, geschrieben von einer der mutigsten, emanzipiertesten Frauen ihrer Zeit, die weitsichtig das Verhalten ihrer eigenen Pariser Intellektuellen-Blase reflektiert. Geradezu prophetisch lesen sich die Passagen, in denen sie über Sinn und Unsinn von Aussteigertum nachdenkt und über das Reisen als Flucht aus einem urbanen Umfeld, das durch mediale Reizüberflutung gekennzeichnet ist.

„Wir können gut nachvollziehen, welche Anziehungskraft dieses Leben in Abgeschiedenheit auf manche von der Welt erschöpften und ihrer Illusionen beraubten Seelen ausübt“, schreibt George Sand über die Kartause von Valdemossa. „Wer hat nicht solche Bestrebungen in sich schon mal verspürt? Doch ist dies nicht die wahre Bestimmung des Menschen: Er ist in die Welt gekommen, um darin etwas zu bewirken.“

Massentourismus, Online-Pöbelei: George Sand hat vieles vorausgeahnt

Und auch den modernen Massentourismus hat die Autorin vorhergesehen: „Ich spreche mich weiß Gott nicht dagegen aus, dass Menschen in größeren Mengen auf Reisen gehen. Aber wenn die menschliche Intelligenz und Moral genauso schnell vorankommen sollen wie die Industrie, so möchte ich meinen, dass es nicht die Aufgabe der Eisenbahn sein kann, ganze Völkerscharen, die unter der Melancholie leiden oder von krankhafter Hektik befallen sind, von einem Fleck der Erde an einen anderen zu transportieren.“

Wenn George Sand über die Informationsgesellschaft schreibt, meint man gar, eine Analyse der aktuellen Weltlage vor sich zu haben: „So notwendig die Presse für unser Denkgebäude und die Welt unserer Handlungen sein mag, ist es andererseits nicht erschreckend und abstoßend, in allen Einzelheiten mitverfolgen zu müssen, wie überall die Leute im Streit miteinander liegen und Wochen und Monate voller Beleidigungen und Drohungen ins Land gehen, ohne dass die Dinge auch nur einen Schritt vorangekommen sind?“

Die Autorin befällt in solchen Situationen „große Lust, einfach einzuschlafen, um erst etliche Jahre später wieder aufzuwachen“. Eine Vorstellung, die vielen, die sich vor der Ära Trump fürchten, attraktiv erscheinen muss.

Und schließlich ist da noch diese Anekdote, die deutlich macht, dass sich schon vor 180 Jahren fake news viral über die sozialen Netzwerke verbreitet haben: Ein alter Priester, erzählt Sand, träumt, er werde von Räubern überfallen. Er weckt seine Haushälterin, die wiederum die Nachbarschaft aufschreckt, wodurch das Gerücht eines bevorstehenden Angriffs der Insel durch feindliche Truppen entsteht, das sich immer mehr herumspricht, bis der Gouverneur sich schließlich entscheidet, den Belagerungszustand auszurufen.

George Sand: Ein Winter auf Mallorca, dtv 2016, 373 Seiten, 18 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false