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Straßenszene aus dem Airdrie von heute, dem Schauplatz von Keenans Roman.

© Alamy Stock Photo

Ein Pop-Roman des schottischen Autors David Keenan: Neues aus dem schwarzen Loch

Fiktive Geschichte einer Band: David Keenans Roman „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“.

Dieser Titel hat Charme, ein strategisches Moment steckt auch in ihm. Er ist originell und man kann ihn sich nicht merken. Und er soll sicher nicht von ungefähr an eine Zeit erinnern, da nach dem riesigen Erfolg von Jonas Jonassons Roman „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ die Verlage mit immer wieder neuen Variationen dieses Titels dessen Erfolg zu kopieren, zum Beispiel mit „Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten“ oder „Der Bibliothekar, der lieber dement war als zuhause bei seiner Frau“.

Der Titel also, den der Liebeskind Verlag für die deutsche Übersetzung von David Keenans 2017 in Schottland erschienenem Pop- und Debütroman „This is Memorial Device“ gewählt hat, lautet: „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“. Er ist einer Kapitelüberschrift entnommen, aber ob er jetzt besser ist als der Originaltitel? Eher nicht. Nur erschließt sich die Doppeldeutigkeit von „Memorial Device“ im Deutschen nicht, und auch nicht der Verweis auf „This is Spinal Tap“, einen Film aus den achtziger Jahren, der von den Ereignissen auf der Tour einer fiktiven Heavy-Metal-Band erzählt, eben Spinal Tap. Wörtlich übersetzt heißt „Memorial Device“ so viel wie Erinnerungsspeicher, Erinnerungsgerät. Als ein solches fungiert in Keenans Roman eine fiktive Band, die so heißt und in den mittleren achtziger Jahren auf dem Sprung war, eine der ganz großen auf den Britischen Inseln zu werden, so groß zumindest wie, sagen wir: Orange Juice.

Es geht in dem Roman um die mittleren achtziger Jahre

„Sie klangen wie Airdrie, was heißen soll, sie klangen wie ein beschissenes schwarzes Loch. Alle liebten oder hassten sie, und die, die sie hassten, liebten sie gleich doppelt.“ So hebt er an, der vermeintliche Erzähler von Keenans Roman, Ross Raymond, der jedoch nur der fiktive Herausgeber ist. Raymond hat seine alten Bekannten, Freunde und andere Menschen per Mail, Brief oder telefonisch kontaktiert, damit diese sich an eine Zeit erinnern, ebenjene achtziger Jahre, in der nicht nur der Spaß am allergrößten war, sondern alles möglich schien. Selbst in Airdrie, einem ganz realen Kaff an der schottischen Westküste mit 30 000 Einwohnern, nicht weit von Glasgow gelegen. Der Rücklauf, den Raymond bekommen hat, war ordentlich, und so erzählen dann die unterschiedlichsten Figuren, wie es damals in Airdrie zuging und wie nicht zuletzt Memorial Device zu einer so sagenumwobenen Band werden konnten.

In einer Diskografie der Band, die der umsichtige Keenan dem Roman noch angefügt hat, heißt es in einer Konzertkritik von 1984: „Memorial Device sind eine vierköpfige Rockband, die im vergangenen Jahr in Lanarkshire hohe Wellen schlugen, hohe Industrial-Wellen, um genau zu sein, da sie sich an den eher experimentellen Krautrockbands der siebziger Jahre orientieren, das Ganze mit etwas seltsam Eigenem und einem Sänger kreuzen, der mit Ian Curtis verglichen wurde.“

Keenan, 1971 geboren, spielte in den neunziger Jahren selbst in Bands wie Telstar Ponies und 18 Wheeler. Natürlich geht es in seinem Roman viel um Popmusik, wie sich Bands gründen, wie sie proben, in London bei großen Indielabels vorsprechen oder Interviews für FanzineJournalistinnen geben. Aber die vielen Geschichtenerzähler haben noch mehr parat, verstecken sich doch in Airdrie „in einsamen möblierten Zimmern und tristen Wohnungen über Imbissen die mitunter exzentrischsten Charaktere, die je einem Roman entsprungen sind“. Das Leben in diesem Ort ist tatsächlich nicht sehr geistsprühend. Wie soll es auch, wenn fast alle sich mit irgendwelchen McJobs über Wasser halten, in Krankenhäusern, Imbissen, Bars oder Schuhgeschäften? Wenn hier die Tristesse der schottischen Reihenhaussiedlungen regiert. Und doch haben sie alle ihre Träume, wollen sie raus. Manche schaffen es nach Israel, Paris oder Andalusien und kehren mitunter recht desillusioniert zurück.

David Keenans Geschichten erinnern an Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“

„An Hallucinated Oral History of the Postpunk-Scene in Airdrie, Coatbridge and Environs 1978–1986“ heißt der Untertitel des Romans im Original. Keenan (und auch der Übersetzerin Conny Lösch) ist es gelungen, seine Figuren so authentisch wie möglich mündlich ihre Geschichten erzählen zu lassen: schnoddrig, lässig, im Sound der Unterschichten. Das wirkt so zunächst allerdings etwas gleichförmig, da macht es keinen Unterschied, ob sich hier Figuren wie ein David Kilpatrick an die Sage von Chinese Moon erinnert oder ein Johnny McLauglin Big Patty in Airdrie (oder doch in Belfast?) trifft.

Doch Keenan war sich dieses Mankos bewusst und wechselt häufig die Form: Auf ein Interview folgt eine mit vielen Unterstrichen versetzte Erinnerung, auf eine Erzählung ohne Absatz folgen mehrere mit ganz vielen Absätzen, auf eine Liste, klar, dies ist ein Poproman! (nämlich die Liste der Platten, „die Big Pattys Freundin nach der Trennung von ihm wiederhaben wollte“), folgt ein Requiem in Form einer Sentenzensammlung. Eine davon heißt: „Wir alle leben unser Unglück in unterschiedlichem Maße aus“. So ein Satz, der könnte genauso gut in Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ stehen oder in Siegfried Lenz’ „So zärtlich war Suleyken“. Tatsächlich hat Airdrie mehr mit diesen Orten und Keenans Roman mehr mit diesen literarischen Vorbildern zu tun als mit der „Trainspotting“-Prosa eines Irvine Welsh.

David Keenan: Eine Impfung zum Schutz gegen das selbsttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird. Roman. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Liebeskind Verlag, München 2019. 320 Seiten, 20 €.

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