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Kultur: Ein Königreich für ein Fahrrad

Als Vittorio de Sica 1948 "Fahrraddiebe", den neo-realistischen Meilenstein der Filmgeschichte, drehte, beherrschten Arbeitslosigkeit und materielle Not das Rom der Nachkriegszeit. Durch den Besitz eines Fahrrades konnte der Held Antonio den so dringend benötigten Job als Plakatkleber annehmen und seine Familie ernähren.

Als Vittorio de Sica 1948 "Fahrraddiebe", den neo-realistischen Meilenstein der Filmgeschichte, drehte, beherrschten Arbeitslosigkeit und materielle Not das Rom der Nachkriegszeit. Durch den Besitz eines Fahrrades konnte der Held Antonio den so dringend benötigten Job als Plakatkleber annehmen und seine Familie ernähren. Dann wurde ihm das Rad gestohlen - von jemandem, der es genau so dringend brauchte wie er.

Ein halbes Jahrhundert später hat sich - in wirtschaftlich prosperierenden Beijing - die Bedeutung des Fahrrads nicht sehr geändert: Für die jungen Landflüchtlinge, die täglich in der chinesischen Metropole ankommen, ist "Geld verdienen!" das oberste Gebot, und Fahrradkuriere werden in der Millionenstadt sehr gebraucht. Einer von ihnen ist Guei. Stolz auf die Uniform und vor allem auf das glänzende, silberne Mountainbike, das die Firma zur Verfügung stellt, strampelt er täglich durch Beijing. Nach einem Monat ist er schon fast so weit, dass er der Firma das Rad abkaufen kann. Dann wird es gestohlen, und Guei wird gekündigt; allerdings verspricht ihm der Manager, ihn wieder einzustellen, wenn er das Fahrrad zurückbringt. Tatsächlich findet er es im Besitz des Schülers Jian, der zu einer Mountainbiker-Gang gehört. Jian hat es auf einem Flohmarkt gekauft. Beide Jungen glauben nun, einen Anspruch auf das Rad zu haben und kämpfen erbittert um dessen Besitz.

Es ist weniger die Geschichte des Fahrrads, die den auf der Berlinale 2001 mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten Film so interessant macht, sondern das, was man über das Leben in Beijing erfährt. Mit den staunenden Augen des Fahrradkuriers vom Dorf sieht man die Hochhäuser aus Glas und Stahl im Sommersonnenschein glitzern. Und wenn Guei, der das Zähneputzen erst lernen muss und noch nie in seinem Leben geduscht hat, ehrfürchtig die Lobbys der Hotelpaläste betritt, bekommt man eine Ahnung davon, wie riesig die Kluft zwischen Stadt- und Landleben in China sein mag.

Dass auch innerhalb der Stadt Menschen wohnen, für die die Hochhäuser so fern sind wie der Mond, zeigt die Figur Jians. Seine Familie ist arm und wohnt in beengten Verhältnissen in einem schäbigen Viertel, in dessen Gassen die alten Männer vor den Häusern sitzen und Go spielen. Für Jian ist das Fahrrad ein Statussymbol. Er und seine Freunde sind bereits Opfer jener Konsumwelt, die in Gueis Wahrnehmung nur als Kulisse existiert. Eine Portion sozialkritischer Realismus steckt also auch in "Beijing Bicycle", aber die Lage ist nicht hoffnungslos.

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