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Kultur: Ein alter Balzac

Vom Kapital des Körpers und dem Verfall der Kalauer: Frank Castorf fleddert „La Cousine Bette“ in der Volksbühne.

So konsequent wie in Balzacs 1846 erschienenem Roman „La Cousine Bette“ wird erotisches Kapital selten in Edelimmobilien, Luxuskutschen und Rentenpapiere umgesetzt. Der Baron Hulot – ein ehemaliger Günstling Napoleons und ranghoher Beamter des Kriegsministeriums – trägt seine Besitztümer auch dann noch hörig zu seinen Affären, als sie längst verpfändet sind. Daheim nagt die tugendhafte Gattin Adeline unterdessen am Hungertuch. Eine verkniffene Verwandte namens Tante Lisbeth beschleunigt dabei den Hulot’schen Familienruin mit persönlichem Lustgewinn. Durch raffinierte Intrigen rächt sich die Mid-Agerin für sämtliche erlittenen Erniedrigungen, Beleidigungen und Ausstattungsnachteile, die ihr die Teilnahme am lukrativen Tauschgeschäft „Sex gegen Altersvorsorge“ versagen.

Großer Bühnenstoff also, zumal für Frank Castorf, bei dem das allumfassende Balzac’sche Bordell freilich „Asia Quick“ heißt. In roter Leuchtschrift prangt der Schriftzug über dem mehrstöckigen schwarzen Haus, das Bert Neumann den illustren Hulots nebst ihren Konkurrenten und Kurtisanen auf die Drehbühne gebaut hat. Die repräsentierwilligen Wohnstuben, Mätressen-Matratzen und Prekariatsdachkammern, die sich darin verbergen, sind auch diesmal nicht direkt einsehbar. Ein Großteil des Geschehens wird gewohntermaßen via Live-Video an die Bühnenfront übertragen. Auf dem Empire-Sofa im Hulot’schen Salon kommt es dabei wiederholt zu Familienpossen, gegen die sämtliche Boulevardbühnen und Fernsehschwänke einpacken können. Was dem hedonistischen Personal beim alten Balzac Party, Sex & (Finanz-)Crime, ist dem gegenwärtigen Durchschnittsdeutschen schließlich Fernseh-Soap und Ballermann. Und weil Frank Castorf an diesem Abend mal wieder die ganz große Besetzung auffährt – begnadete Volksbühnen-Veteranen von Kathrin Angerer bis Bernhard Schütz agieren neben würdigen Nachkommen à la Lilith Stangenberg oder Marc Hosemann – ist diese Parodie auf mehr oder weniger triebkanalisierte Vergnügungsversuche über weite Strecken wirklich ziemlich lustig, wenn auch selbstredend nicht eindeutig zielführend. Schnöde Handlungsökonomie und unmittelbare Decodierbarkeit waren Castorfs Ding schließlich noch nie.

Alexander Scheer hyperventiliert also als halbseidener Baron Hulot mit Nerdbrille, angemessen alberner Blödellaune und einem eindrucksvollen Morgenrock zwischen Gattin und konsequent französisch parlierender Mätresse Valérie (Claire Sermonne) hin und her – wie die männliche Boudoir-Wäsche bei Kostümbildnerin Tabea Braun überhaupt ein sehenswertes Revival feiert. Auch Marc Hosemann, der sich als neureicher Parfümhändler Crevel in brüllend komischem Rheinisch dafür rächt, dass Hulot ihm die Lieblingsnutte ausgespannt hat, unternimmt seine kompensatorischen Baggerversuche an der Hulot-Gattin Adeline gern mal im pinkfarbenen Schlafanzug. Während „der Pole“ – das künstlerisch talentierte Ost-Migrantenkind Wenceslas Steinbock (Maximilian Brauer), das bald zum Zankapfel zwischen Tante Lisbeth und ihrer Nichte Hortense wird – den Bleistift vorerst in Feinripp-Unterhosen auf dem Fußboden seiner Dachkammer schwingt.

Fast überflüssig zu erwähnen, dass Steinbock Castorf vor allem als Lieferant europäischer Historien-Anspielungen wie auch neuerer Ost-West-Kalauer dient. Sogar amüsante Blödeleien zum Flughafen BER bringen die Akteure in Anlehnung an ein jüngeres „Titanic“-Cover überzeugend im Balzac’schen Kolportage-Stoff unter.

Dennoch: Vor der Pause, in den ersten zweieinhalb Stunden, erzählt Castorf ziemlich nachvollziehbar am Roman entlang; mit sichtlicher Hingabe ans szenische Detail. Wie sich Lilith Stangenberg als Hortense im Duell mit ihrer Tante Lisbeth (Jeanne Balibar) erst in einem weißen Wollknäuel verstrickt und anschließend unter buchstäblich fadenscheinigem Aktionismus als Quickie-Resultat mit dem Grafen Steinbock ihre weiße Strumpfhose gebiert, bereichert das theatrale Beischlafbebilderungsrepertoire um eine höchst originelle Variante. Kathrin Angerer nörgelt die Tugendhaftigkeit ihrer Adeline sowieso in herrlich doppelbödiger Manier aus sich heraus. Und Bernhard Schütz macht als verschlagener Valérie-Gatte Marneffe mit Schiebermütze eine ebenso gute Volksbühnen-Figur wie in der Rolle des Schriftstellers Louis-Ferdinand Céline.

Denn nach der Pause versetzt Castorf Balzac zunehmend mit seinen Céline-Lektüren. In München hatte der Volksbühnenchef kürzlich dessen „Reise ans Ende der Nacht“ inszeniert. Und wie die Hulot’sche Familie zerfällt jetzt auch das restliche Bühnengeschehen in mal mehr, mal weniger nachvollziehbare Einzelkapriolen. Während einem das im Parkett eine gewaltige Kondition und geradezu übermenschliche Ausgeschlafenheit abverlangt, scheint das Ensemble einen Riesenspaß zu haben.

Was sich auch in Anspielungen auf frühere Volksbühnen-Zeiten äußert. Zwischen Rammstein-Parodien, BackstageVerweisen auf „Frank“ und seinen Regiekollegen „Luc“, Verwurstung der „Blackfacing"-Debatte und Auseinandersetzungen mit Céline’schem Antisemitismus und europäischer Geschichte ist der Orientierungsverlust im Parkett nichts Ungewöhnliches. Die finale Höchststrafe ergreift selbstredend das komplette Ensemble: Ramponiert und altersschwach, aber mit ungebremster Begehrlichkeit und Kalauer-Laune legt sich der Abend nach reichlichen fünf Stunden in die Schlusskurve.

Wieder am heutigen Sonnabend sowie

am 28. Dezember, 19 Uhr

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