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Hitler besichtigt mit seinen Generälen die eroberte Westerplatte in Danzig.

© picture alliance / dpa

Egon Bahr über Beginn des Zweiten Weltkriegs: „Ich versuchte, Mensch zu bleiben“

Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Egon Bahr, Journalist und Politiker, erinnert sich an Schrecken, Terror und Glück.

Egon Bahr, 93, wurde in Thüringen geboren und wuchs in Berlin auf. Der gelernte Journalist war ein enger Wegbegleiter Willy Brandts und ab 1972 Bundesminister für besondere Aufgaben.

Herr Bahr, 1914 versammelten sich in den Großstädten begeisterte Menschen, um den Ersten Weltkrieg zu feiern. Als vor 75 Jahren, am 1. September 1939, der Zweite Weltkrieg begann, soll die Stimmung in Deutschland gedrückt gewesen sein. Stimmt das?
Ich war 17 Jahre alt und kann mich an keine Begeisterung erinnern. Die Menschen waren in gedrückter Stimmung und wussten nicht, was vor ihnen steht. Um meine Situation zu erklären, muss ich zurückgreifen in das Jahr 1933. Da hat mein Vater gesagt: Wenn die Nazis kommen, kommt der Krieg. Und dann kam der Krieg gar nicht. Ganz im Gegenteil, als 1936 die Olympischen Spiele in Berlin stattfanden, fühlte sich mein Vater bedrückt, weil die ganze Welt kam und vor dem „Führer“ und Reichskanzler Adolf Hitler einen Kotau machte. Und 1938 kam auch kein Krieg, da verhandelten die Nazis mit England und Frankreich über das Sudetenland in München und triumphierten. 1939 kam er – endlich, nach meinem damaligen Gefühl. Und ich fand ihn großartig. Denn nach zehn Tagen war Polen besiegt, dann wurden Norwegen und Dänemark blitzartig besetzt und 1940 war die Wehrmacht in der Lage, innerhalb von sechs Wochen Frankreich zu schlagen. Was das Kaiserreich nie geschafft hatte. Das empfand ich als imposant. Nicht ohne gleichzeitig gedacht zu haben, weil ich eine jüdische Großmutter hatte: Wenn wir gewinnen, ist es das Ende meiner Familie, mich eingeschlossen.

Das Wetter soll an diesem 1. September in Berlin überaus sonnig und warm gewesen sein. Eigentlich Friedensklima, oder?
Ich weiß noch genau, wie erstaunt ich war. Die Leute saßen in den Konditoreien, vor Cafés oder in Biergärten, fraßen Torten, vergnügten sich abends im Theater, in den Kinos oder Konzerten. Aber ich hatte gedacht, wenn der Krieg beginnt, kommen feindliche Flieger und es passiert Schreckliches. Von dem Abdunkeln der Fenster abgesehen, passierte überhaupt nichts Schreckliches. So hatte ich mir Krieg nicht vorgestellt. Das Leben ging einfach weiter.

Hitler sagte im Reichstag: „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen“, und im Sender Gleiwitz inszenierte die SS einen angeblichen polnischen Überfall. Haben Sie die Propagandalügen von einem deutschen Verteidigungskrieg geglaubt?
Nein, in keiner Minute. Gleiwitz habe ich für einen Trick gehalten. Dass es sich um einen deutschen Angriffskrieg handelte, war doch unbezweifelbar. Die Polen haben uns doch nicht angegriffen, um Gottes Willen. Die Polen waren militärisch schwach – das war schon damals offensichtlich – und gar nicht in der Lage, Deutschland herauszufordern. In Wirklichkeit war der deutsche Angriff der Anfang dessen, was mit dem deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrag ein paar Wochen vorher zwischen Ribbentrop und Molotow heimlich verabredet worden war: die Teilung Polens und die Eingliederung der baltischen Staaten.

Wann wurde Ihnen klar, dass es nicht bloß ein Angriffskrieg, sondern auch ein Vernichtungskrieg war?
Eine Ahnung davon habe ich bekommen, als ein Onkel von mir auf dem Anhalter Bahnhof einen halbstündigen Zwischenstopp machte. Er wollte sich verabschieden, weil er über Italien nach Schanghai emigrieren musste. Er kam aus dem KZ Oranienburg, er war kahl geschoren und ihm fehlten die Goldzähne, die ich an ihm immer so bewundert hatte. Er hat aber kein Wort gesagt von dem, was er erlebt hatte. Wir verabschiedeten uns ohne zu wissen, ob wir uns noch mal wiedersehen würden. Er hat überlebt und kam nach dem Krieg aus Schanghai zurück nach Berlin. Ein anderer Onkel hat versteckt in Berlin überlebt. Sogar die Großmutter hat überlebt, in einer Schrebergartenkolonie. Als sie einen Schlaganfall bekam, haben wir überlegt, ob wir sie im Falle des Todes im Garten verbuddeln müssten. Zum Glück besaßen wir gute Freunde im ostpreußischen Elbing, die haben uns 1944 berichtet, wann ein Evakuierungszug nach Berlin kommen würde. Da haben wir die Großmutter im Rollstuhl zum Bahnsteig auf der Friedrichstraße gebracht und sie den Schwestern der Inneren Mission übergeben, als ob sie mit dem Zug gekommen sei, der gerade eingefahren war. So gelangte sie ins Erzgebirge, sie erhielt sogar Papiere und kehrte nach der Kapitulation nach Berlin zurück. So hat unsere Familie vielfach Glück gehabt.

Wie gerieten Sie dann in den Krieg?
Als ich hörte, dass ich bald eingezogen würde, habe ich mich freiwillig zur Luftwaffe gemeldet. Schon damals wollte ich nicht gerne laufen. 1942, nach einer harten Grundausbildung habe ich auf ein Kommando gehört: Alle Abiturienten rechts raus. Wir wurden nach Rendsburg gebracht, man hat uns dort zu unserem Bedauern die Flieger-Spiegel abgetrennt und stattdessen die roten Flak-Spiegel aufgenäht. Wir marschierten durch die Stadt, um die Sehenswürdigkeiten kennenzulernen, auf der einen Seite war das die Drehbrücke, auf der anderen Seite der Puff. Damit hatte es sich. In einem Offiziersbewerberregiment in Zingst auf dem Darß wurde ich an verschiedenen Flak-Geschützen ausgebildet. Dann war ein Jahr vorbei, in München bekam ich Marschpapiere für Minsk. Doch da gefiel es dem Führer und Reichskanzler, ins unbesetzte Frankreich einzumarschieren. Zwanzig Fahnenjunker wurden gebraucht, wie bei Preußens üblich wurde die Liste der Namen von oben nach unten durchgegangen. „Ba“ steht zum Glück ziemlich weit vorne. Das war meine Rettung, denn so kam ich nach Frankreich.

"Du musst versuchen, ein normaler Mensch zu bleiben."

Sie landeten an einer Flakstellung bei Dieppe. Als ein amerikanischer Liberator-Bomber abgeschossen wurde, fanden Sie die Leichen der Insassen. Dabei empfanden Sie laut Ihrer Autobiografie „Genugtuung“. Bereuen Sie dieses Gefühl heute?
Auf dem Flugzeug waren Bomben aufgemalt und daneben das Wort „Berlin“. Und ich hatte drei Wochen lang nichts von meiner Familie aus Berlin gehört. Deshalb dachte ich: Vielleicht ist das der Bomber, der der Grund dafür ist, dass ich keine Post mehr bekommen hatte. Erst hinterher habe ich einen Schreck über mich selbst bekommen, wegen meiner damaligen Genugtuung. Mir wurde klar, dass der Firnis der Zivilisation im Krieg sehr, sehr dünn wird. Mein Vorsatz war: Du musst versuchen ein normaler Mensch zu bleiben.

Ist es einfacher, auf ein Flugzeug weit oben im Himmel zu schießen als auf einen Menschen, der ein Gesicht hat?
Am Silvesternachmittag 1944 war ich ausersehen, Post zu holen. Ich lief über ein Flugfeld, als ich hörte, dass sich von hinten ein Flugzeug näherte. Ich schmiss mich hin und habe zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass ich mich hinter einem Grasbüschel verstecken kann. Es war ein englischer Jagdflieger, er schoss auf mich, zum Glück vorbei. Ich stand fluchend wieder auf und erkannte: Der dreht um, schießt noch mal auf mich. Das war das zweite Mal, wo ich Glück hatte. Aber ich habe den Piloten nicht gesehen, sein Gesicht nicht gesehen. Ich sah da nur einen Kopf in der Maschine. Die Frage kann ich nicht beantworten. Ich habe das nicht erlebt, bewusst einen Menschen zu sehen und abzudrücken.

1944 wurden Sie als „nicht-arischer“ Offiziersanwärter vom Dienst suspendiert. Sie setzten Ihre Ausbildung zum Industriekaufmann bei Rheinmetall Borsig in Berlin fort. Empfanden Sie das als Makel?
Im Gegenteil, ich habe das sogar ein bisschen höhnisch gesehen. Ich durfte kein Gewehr mehr halten, war aber in Tegel bei Rheinmetall Borsig – wir nannten es „Spreemetall Rostig“ – für die Verteilung von Munition und Waffen an alle Fronten zuständig. Die Fronten kamen immer näher, deshalb wurde der Zeitbedarf für die Lieferung immer kürzer. Aus der Wehrmacht entlassen worden zu sein war ein ungeheures Glück für mich. Denn 1944 und 1945 sind mehr Menschen als in den vier Jahren zuvor im Krieg umgekommen. Und ich habe überlebt.

Das Kriegsende haben Sie in Tegel erlebt. Gibt es in Ihrer Erinnerung ein Bild, das für die Befreiung steht?
Erst mal war von Befreiung keine Rede. Wir haben im Keller gesessen und das Trippeln der russischen Panje-Wagen übers Kopfsteinpflaster gehört. Die nächste Erinnerung ist das Öffnen der Tür und das Runterkommen der Rotarmisten auf der Treppe. Zuerst sahen wir ein Bajonett auf dem Gewehr, dann den Mann dahinter. Der ging durch den Mittelgang, links und rechts saßen die Bewohner des Hauses. Plötzlich sah er einen Draht, der an der Decke entlanglief und wurde sehr aufmerksam. Wir sagten: „Radio“, schalteten das Gerät ein und dann spielte schöne Unterhaltungsmusik vom Reichssender Sowieso. Dann wollten die Soldaten Frauen haben. Meine spätere Frau hatte schon ein erkennbares Bäuchlein. Ich stellte mich vor sie, sagte: Die Frau bleibt hier. Da wollte er mir an die Kehle gehen, ich weiß nicht, wieso der Soldat von mir abließ, aber zum Glück tat er es. Der Begriff Befreiung hat sich erst mit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker von 1985 durchgesetzt und seiner Erinnerung, der Krieg 1939 sei nicht ohne 1933 zu denken. Wir waren besiegt und wir waren befreit.

Das Gespräch führte Christian Schröder.

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