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Klassenkämpfer. Der französische Schriftsteller Édouard Louis.

© AFP

Édouard Louis und sein Vater-Porträt: Wir brauchen wieder eine Revolution

Mit den Gelbwesten aus der Unsichtbarkeit: Édouard Louis schreibt über seinen Vater – und rechnet mit der Politik in Frankreich ab.

Als sich im Herbst in Frankreich die Bewegung der "gilets jaunes" formierte, der Gelbwesten, die seitdem Woche für Woche überall im Land gegen die Politik Emmanuel Macrons protestieren, zögerte der Schriftsteller Édouard Louis nicht lange, sich zu solidarisieren. In einem Text für die französische Kultur- und Rockzeitschrift „Les Inrockuptibles“ schrieb er Anfang Dezember, die Bewegung verkörpere etwas „Richtiges, Dringendes, Radikales“, sie mache „endlich die Gesichter und Stimmen sichtbar und vernehmbar, die normalerweise in die Unsichtbarkeit gebannt werden“.

Damit meinte er nicht zuletzt die Gesichter, Stimmen und Körper aus seinem Herkunftsmilieu in Nordfrankreich, einem trostlosen, homophoben und rassistischen Milieu, wie Louis es in seinen Debütroman „Das Ende von Eddy“ und passagenweise in seinem zweiten Roman „Im Herzen der Gewalt“ beschrieben hat. Beide Bücher sind gleichermaßen wütende wie analytische Abrechnungen, mit den Eltern, mit den Geschwistern, mit den Leuten aus seiner näheren Umgebung. Sind Erinnerungen an eine Kindheit, mit der er „keine einzige glückliche Erinnerung“ verbindet. In den Gelbwesten jedoch, den Körpern der Menschen dahinter, sah Louis nun auch die „meines Vaters, meines Bruders, meiner Tante. Sie ähneln den Körpern meiner Familie und der Menschen aus dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin“.

"Wir müssten doch eigentlich schreien.“

Vor diesem Hintergrund mochte der Gesinnungswechsel von Édouard Louis ein bisschen überraschend wirken, zumal weiterhin ungeklärt ist, wie groß das rechtspopulistische, das rechtsextreme Reservoir der Gelbwesten-Bewegung ist, inklusive ihrer rassistischen und homophoben Anwandlungen. Doch war zum Zeitpunkt von Louis’ Parteinahme für die "gilet jaunes" sein drittes Buch in Frankreich schon lange veröffentlicht. Titel: „Wer hat meinen Vater umgebracht“.

Anders als in „Das Ende von Eddy“ und „Im Herzen der Gewalt“ regiert hier das Mitgefühl, das Verständnis. Ja, dieses Vaterbüchlein hat etwas von einer Liebeserklärung, nachdem sich Vater und Sohn ausgesprochen haben. Aus der Anklage gegen die Familie und das Herkunftsmilieu ist eine Anklage gegen die bürgerliche Gesellschaft geworden, gegen die herrschenden Klasse, eine „Anklage der politischen Geschichte“.

Gleich auf den ersten Seiten gesteht Louis zwar, dass er sich wiederhole. Er habe manches ja bereits erzählt, in seinen Büchern, in Interviews. Doch es hilft nichts: „Ich muss mich doch wiederholen, wenn ich von deinem Leben erzähle, denn von einem solchen Leben will niemand hören!“, insistiert er, den Vater dann immer in der zweiten Person Singular anredend. „Man muss sich doch wiederholen, bis sie uns zuhören! Um sie zum Zuhören zu zwingen! Wir müssten doch eigentlich schreien.“

Man merkt allein an den vielen Ausrufzeichen, daran, dass er von „Wir“ spricht, wie wichtig Louis es trotz aller Wiederholungen ist, herauszustreichen, wer seinen Vater auf dem Gewissen hat: die Politiker von Chirac über Hollande bis zu Macron, die Politik, die „einen verfrühten Tod vorgesehen hat“ für die Kategorie von Menschen, zu der sein inzwischen sehr malader Vater gehört.

Die Literatur ist für Louis insbesondere mit diesem Buch lediglich ein Mittel zum Zweck, ein Mittel des Kampfes gegen die Macht. Ihren Erfordernissen, so gibt er zu, will er keine Rechnung tragen, „sondern denen der Notwendigkeit, der Dringlichkeit, denen des Feuers“. Form, Schönheit und stilistische Stringenz haben deshalb das Nachsehen, und so wechseln sich in „Wer hat meinen Vater umgebracht“ noch mehr als in den Vorgänger-Büchern Szenen aus dem Familienleben mit soziologischen Deutungen ab und am Ende auch mit schmucklosen, pamphlethaften Passagen, da es um immerwährend neue Streichungen im Sozialsystem geht.

Vorbilder für Louis: Didier Eribon und Annie Ernaux

Vieles aus Louis’ Familienleben ist inzwischen hinreichend bekannt: vom gewalttätigen Halbbruder über die unselige Kindheit des Vaters, die Prügel, die er wiederum von seinem Vater bezog, so dass er sich schwor, nie die Hand gegen seine Kinder zu erheben, bis hin zum Vegetieren des Vaters auf der heimischen Couch mit Pastis und Chips, weil er berufsunfähig geworden ist. Auch Imre Kertész führt Louis wie in „Im Herzen der Gewalt“ als Gewährsmann an, was einmal mehr irritiert. Als könne man, wie Louis das tut, die Langeweile im Konzentrationslager, von der Kertész berichtete, mit der seines invaliden Vaters vergleichen. Peter Handkes Buch über seine Mutter, „Wunschloses Unglück“, aus dem Louis ebenfalls zitiert, wirkt in diesem Kontext schon angebrachter. Und da ist es zu Louis’ engstem intellektuellen Freundeskreis nicht weit; zum Soziologen Didier Eribon, der mit seiner „Rückkehr nach Reims“ 2009 das Vorbild für Louis’ Bücher verfasst hatte und dem Handkes Mutterbuch in „Gesellschaft als Urteil“ als Leitfaden diente; zum Philosophen Geoffroy de Lasagnerie und vor allem zur Schriftstellerin Annie Ernaux, deren in den frühen achtziger Jahren verfasstes Vater-Requiem „Der Platz“ demnächst ebenfalls auf Deutsch erscheint.

Als Leitmotiv dieses trotz der Kürze in drei Kapitel gegliederten Buches steht eine Aufführung von Louis mit drei Freunden bei einer Party der Eltern. Die Jungs spielen ein Konzert, der kleine Édouard tritt als Leadsängerin der Band auf, mit von ihm einstudierten Choreografien, Bewegungen und Gesten. Dieses Konzert kommentiert der Vater nur schweigend. Er geht nach draußen, um zu rauchen, und dem Sohn ist klar, warum: Alles Weibliche ist dem Vater bei einem Jungen zuwider, „ein Mann sein, das heißt, sich nicht wie ein Mädchen, wie eine Schwuchtel aufführen“. So kennt es Édouard Louis, so ist es ihm eingetrichtert worden, darunter hat er schwer gelitten.

Der Vater kritisiert jetzt auch den Rassismus in Frankreich

Doch in diesem Buch erzählt er auch, wie er entdeckt, dass sein Vater selbst sich einmal als Frau verkleidete. Dass dieser einparfümiert war, als er seine Frau, Édouards Mutter kennenlernte (was, wie sie ihrem Sohn erklärt, früher nicht Usus gewesen sei). Und dass der Vater auch ein Faible für Opern hat. Louis erzählt, wie der Vater ihm einst einen Geburtstagswunsch erfüllte, geradezu übererfüllte, wie er zu Weihnachten mehr Geld für noch mehr Essen ausgab als nötig, obwohl er ein Weihnachtshasser ist. Oder wie er sich den Spaß erlaubte, mit dem Sohn „übers Wasser“ zu fahren, eine Rallye am Strand. Als sich der kleine Édouard für seinen Auftritt als Sängerin entschuldigt, reagiert der Vater so: „Du nahmst mich in den Arm, sagtest: Es ist nichts, es ist nichts. Mach dir keine Sorgen.“

Es ist rührend, wie Louis versucht, seinen Vater in einem gänzlich neuen Licht erscheinen zu lassen. Aus einem einstigen Rassisten und Homophobiker macht er schließlich einen Mann, der den Rassismus in Frankreich kritisiert, der stolz auf seinen Schriftsteller-Sohn ist und auch dessen Freund unbedingt kennenlernen will. Ob es wirklich so umstandslos vonstatten gegangen ist, nach mehreren Aussprachen, nach Einsichten auf dem Krankenlager? Louis stört sich an solchen Kurzschlüssen nicht. Ihm geht es um „Rache“, wie er einmal schreibt, er möchte die Namen der Polit-Täter, die Menschen wie seinen Vater zu Krüppeln machen, „in die Geschichte einschreiben“.

Am Ende freut sich der Vater, dass Édouard weiterhin politisch aktiv ist. Und er sagt, dass es jetzt wohl „eine ordentliche Revolution“ brauchen würde, und sicher sagt er das stellvertretend für den Sohn. Das war visionär, so wie dieses Buch – was immer nun aus der Bewegung der Gelbwesten wird.

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht. Aus dem Französischen von Hinrich-Schmidt Henkel. S. Fischer, Frankfurt/Main 2019. 77 Seiten, 16 €.

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