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Edinburgh

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Edinburgh Festival: Dolch im Rücken

Das Edinburgh Festival widmet sich der Musik slawischer Nationen. Eine Leskow-Vertonung sorgt für Furore.

Das Werk des russischen Schriftstellers Nikolai Leskow (1831-1895) ist in Westeuropa kaum bekannt, vielleicht wegen der Pointen sinnloser Grausamkeit, die er immer wieder einsetzt. Diese Wendungen lassen ihn von westlichen Traditionen entfernter erscheinen als jene ins Allgemeine gewendete Tragik der Zeitgenossen Leskows, Tolstoi und Dostojewski. Auf Spielplänen diesseits der Oder findet sich lediglich Schostakowitschs brutale und unendlich trostlose Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, zu der Leskow das Libretto schrieb.

Beim ausklingenden Edinburgh International Festival war vergangene Woche eine andere Leskow-Vertonung zu erleben: Der russische Komponist Rodion Schtschedrin schrieb bereits 2001 für das New York Philharmonic eine „Oper für den Konzertsaal“ mit dem englischen Titel „The Enchanted Wanderer“ nach einer Novelle von Leskow (in deutscher Übersetzung „Der verliebte Pilger“). Hauptfiguren sind die schöne Zigeunerin Gruscha und ein Mönch, der Gruscha in platonischer Liebe verehrt. Gruscha jedoch beginnt eine leidenschaftliche Beziehung mit einem Prinzen. Als der Prinz sie verlässt, überreicht Gruscha dem Mönch einen Dolch, den er ihr auf Verlangen ins Herz stößt. In Edinburgh war dies – trotz einer Musik, die Valeri Gergijew und das Petersburger Mariinski-Orchester vor Farbigkeit und rhythmischer Verve nur so funkeln ließen – für das Publikum ein verstörender Einblick in die dunklen Regionen der russischen Seele.

Dennoch wächst in Schottland das Interesse an solchen Einblicken ins kulturelle Denken der slawischen Länder. Nachdem Großbritannien seinen Arbeitsmarkt 2004 für östliche EU-Beitrittsländer öffnete, sind Polen und Tschechien, aber auch Russland näher an Großbritannien herangerückt. Während des International-Festivals in Edinburgh, das sich im August in Schottland auch als Jobmotor bemerkbar macht, wird man in Cafés von polnischen Kellnern bedient, die in ihrer Heimat keine Arbeit als Ingenieure oder Architekten finden. Auf den Straßen bekommt man Flyer zum parallel stattfindenden Fringe-Festival von russischen Studentinnen in die Hand gedrückt.

Angesichts des behaupteten Schwerpunkts „erweitertes Europa“ (offiziell wählte man vorsichtshalber das weit pauschalere Motto „Künstler ohne Grenzen“) war es beim International-Festival eine glückliche Fügung, dass der Intendant Jonathan Mills bereits Jahre vor seinem Amtsantritt mit dem russischen Pultstar Valeri Gergijew das Gesamtwerk des großartigen polnischen Komponisten Karol Szymanowski diskutiert hatte. Mit dem Dirigenten und seinem Petersburger Mariinski-Ensemble konnte Mills so in weiser Voraussicht ein lohnendes Stück slawischer Musiktheater-Moderne für Edinburgh 2008 einkaufen: Szymanowskis selten gespielte Oper „Król Roger“ („König Roger“) aus dem Jahr 1924. Hier fasst Szymanowski eine an Nietzsche erinnernde Übermenschenphilosophie in ein Musikdrama mit Anklängen an Bartók und Debussy. Stilistisch ist es weit entfernt vom musikalischen Auftrumpfen der zeitgleichen deutschen Wagner-Epigonen. Selbst die Gestalt des geheimnisvollen Hirten, der das Volk vom katholischen Glauben abbringt und den König zum Bettler macht, bleibt frei von musikalischem Pomp, wird mit feiner Lyrik gezeichnet. In Edinburgh wirkte der Hirt nicht zuletzt durch den mühelos strahlenden Tenor Pavlo Tolstois überzeugend. Die zurückhaltende, klug an der Musik entlanggeführte Inszenierung von Mariusz Treliÿski ist jedoch eine aus dritter Hand. Sie stammt von der Oper Breslau und wurde von Gergiev bereits für sein „Roger“-Dirigat bei den Petersburger Weißen Nächten benutzt.

Eigenes künstlerisches Profil zeigt das Festival mit solchen Einkäufen nicht, und die Fälle, in denen es die Neugier der Briten auf ihre neuen Nachbarn befriedigen konnte, waren Glückstreffer, eingestreut in das vierwöchige Programm. Die unbekannte Smetana-Oper „Die beiden Witwen“ etwa erwies sich als weit weniger lohnende musikalische Ausgrabung, auch wurde sie von dem deutschen Regisseur Tobias Hoheisel belanglos und mit musealem Mummenschanz in Szene gesetzt. Das Gastspiel der „West-Östlichen Theaterkompanie“ aus Sarajevo mit dem ursprünglich britischen Stück „Class Enemy“, das die geistige Verwahrlosung bosnischer Nachkriegsjugendlicher zeigen sollte, geriet zu einer dramaturgisch völlig ziellosen Gewaltorgie.

Noch 2007, in Jonathan Mills’ Antrittsjahr, bewunderte man die neue programmatische Kraft des Festivals. Damals wurde der Kunstform Oper und ihrem 400-jährigen Jubiläum Tribut gezollt, in Gestalt vielfältiger Theaterbearbeitungen von Monteverdis „Poppea“. Doch Mills ist offenbar noch zu kurz im Amt, um die traditionell weit gefächerten Edinburgher Gastspiele, von Belgien über Polen bis zum Iran, gezielt unter einem programmatisch aussagekräftigen Gesichtspunkt auszurichten.

Matthias Nöther

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