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Die US-amerikanische Schriftstellerin Elvia Wilk, 1989 in New York geboren, hat einige Jahre in Berlin gelebt.

© Nina Subin/Verlag

Dystopischer Roman über Berlin: In „Oval“ sind Menschen Influencer oder obdachlos

Elvia Wilk macht Berlin in ihrem Debüt zum metastasierten Albtraum des Kapitalismus. Ihr gelingt eine Mischung aus böser Satire und Beziehungsdrama.

Seit zehn Jahren geistert „The Berg“ als utopischer Sehnsuchtsort durch die sozialen Medien – ein über 1000 Meter hoher künstlicher Gipfel, perfekt zum Wandern und Skifahren, errichtet auf der Fläche des ehemaligen Flughafens Tempelhof.

Die kühne Idee des Architekten Jakob Tigges wurde vom Berliner Senat schnell als nicht realisierbar abgelehnt – in den Köpfen der Menschen existiert sie weiter und entwickelt mitunter bizarre Eigenleben. Nun hat sie Eingang gefunden in die Near-Future-Dystopie „Oval“ der US-Amerikanerin Elvia Wilk, die lange in Berlin gelebt hat, wo ihr Debütroman auch spielt.

„The Berg“ ist in ihrer Vision Wirklichkeit geworden – auf Kosten sämtlicher anderer Grünflächen der Stadt, die inzwischen bebaut sind. Auch der künstliche Berg ist gespickt mit einem „Echo aus dem Uncanny Valley“: An seinem Hang befindet sich eine Vorzeige-Ökosiedlung, in der die Hauptfiguren Anja und Louis wohnen.

Allerdings nicht lange – denn sehr bald stellt sich heraus, dass die angeblichen „Zero Waste“-Häuser mit ihren Abfallprodukten nicht so gut klarkommen wie versprochen. Und ein weiterer Störfaktor schiebt sich zwischen das Paar: der Tod von Louis’ Mutter, der spurlos an Louis vorbeizugehen scheint, während Anja an seiner statt in Trauer verfällt.

Diese Einbrüche des Realen dienen Wilk nicht etwa als Katalysator für einen wendungsreichen Plot, sondern vielmehr für eine bitterböse Reflektion über eine Gesellschaft, in der alles zur Ware geworden ist: Wissen, Liebe, Freundschaft, Nachhaltigkeit, Kunst, Transgression, Großzügigkeit, ja sogar die Sprache selbst.

Influencer oder obdachlos

Dass Anja zu Freunden zieht und Louis in sein Atelier, um sich einem geheimnisvollen Projekt zu widmen, ist dabei eher Hintergrundfolie. Der eigentliche, alles verschlingende Protagonist ist die Stadt selbst – ein Berlin der nahen Zukunft, das sich in einen metastasierten Albtraum des Kapitalismus verwandelt hat.

Als Strippenzieher fungiert das internationale Techunternehmen Fin-Start (nicht zufällig sowohl Anjas Arbeitgeber als auch ihr Vermieter), das ganze Straßenzüge aufkauft, um unter dem Deckmantel ökologischer Nachhaltigkeit Häuser zu sanieren und daraufhin exorbitante Mietpreise zu verlangen.

[Elvia Wilk: Oval. Roman. Aus dem Englischen von Julia Wolf. Secession Verlag, Berlin 2020. 360 Seiten, 28 €.]

Wer kein berühmter Influencer oder CEO eines der vielen von Fin-Start finanzierten Subunternehmen ist, lebt illegal in Schrebergärten oder ist bereits obdachlos.

Zunächst mutet das wie eine kaum verhohlene Parodie der Realität an, inklusive virtuosem Bullshit-Bingo aus der Start-up-Welt: Wortschöpfungen wie „spekulative Spekulationen über die Zukunft“ füllen Fin-Starts Homepage; „Laboratory Knowledge Management Consultant“ lautet der Titel von Anjas neuem Beraterjob. Louis seinerseits erfüllt bei einer NGO die nicht minder kryptische Aufgabe des „Künstler-Beraters“.

Alles wird monetarisiert

Was das konkret heißt, weiß niemand so genau. Nur so viel: dass er, wie alle anderen Expats seiner Generation, die irgendwas mit Kunst und/oder Algorithmen machen, reibungslos in die Optimierungsprozesse eines Unternehmens eingebunden ist.

Zu spekulativer Fiktion, die aufrüttelt und verstört, wird der Roman stets dort, wo Wilk die „creepy line“ verschiebt: So entwickelt ein Bekannter von Anja eine „Micro-Trading-App für immaterielles Kapital“ (Empfehlungsschreiben gegen Zugang zu Wohnraum, Gossip gegen Gästelistenplätze), die das Prinzip der Shareconomy auf eine Weise imitiert, die an die Anfänge von Airbnb oder Uber erinnert. Ging es dabei nicht einmal um die altruistische Bereitstellung von leer stehendem Wohnraum, die gemeinschaftliche Nutzung von Fahrzeugen?

Es ist nicht so, als hätten Wilks Figuren die Perfidität dieses Systems, das ausnahmslos alles monetarisiert, nicht durchschaut. Im Gegenteil: Sie stehen ihm mit ironischer Skepsis oder einer gewissen Melancholie gegenüber – was sie jedoch nicht daran hindert, Profit aus ungenutzten Ressourcen zu schlagen, bevor andere es tun.

High auf der Droge der Selbstgerechtigkeit

Selbst die titelgebende Pille „Oval“, die kurzzeitig die Belohnungszentren im menschlichen Hirn so verdrahten soll, dass Geben attraktiver wird als Nehmen, dient letztendlich nur dem schnellen Geld und dem schnellen Ruhm ihrer Erfinder.

Anstatt den „Kapitalismus im Hirn“ auszuschalten, wie Louis großspurig ankündigt, verspricht die Droge den Gebenden ein temporäres High, während sich an den strukturellen Problemen einer ungerechten Gesellschaft rein gar nichts ändert.

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Mit demselben mikroskopischen Blick, den Anja in ihrem Labor bei Fin-Start anwendet, seziert Elvia Wilk nicht nur die ins Leere laufenden technologisch-pharmakologischen Utopien einer um sich selbst kreisenden Elite, sondern auch die subtilen Verschiebungen zwischenmenschlicher Dynamiken, die sich daraus ergeben.

Es hätte nicht alles ausbuchstabiert werden müssen

Längst wirken die Apps und Substanzen, die mit asymmetrischen Machtverhältnissen und Wissensvorsprüngen operieren, tief ins Beziehungsgeflecht ihrer Figuren hinein. Louis bleibt seltsam ungreifbar in seiner gut versteckten Trauer, seiner diplomatisch-opportunistischen Wandlungsfähigkeit, die ihn zugleich als Prototyp ultimativer Flexibilität erscheinen lässt.

Anja hingegen, obwohl aus reichem Elternhaus und trotz all ihrer Privilegien („dünn, weiß und hetero“), scheitert immer wieder an den an sie herangetragenen Zuschreibungen als Frau, der emotionalen Arbeit, für die sie permanent zuständig gemacht wird.

Gut hätte es dem Roman getan, nicht ganz so viel von dem, was er erzählen möchte, auszubuchstabieren. Was als Sollbruchstellen zwischen Satire und Beziehungsdrama im ersten Teil gut funktioniert, wirkt im zweiten zunehmend inkohärent: Unversehens zerfällt die Dystopie in eine veritable Horror-Allegorie, die eher an viktorianische Schauerromane erinnert.

Anstatt jedoch diese Irritation bestehen zu lassen, muss der überstürzte Verfall sogleich wissenschaftlich begründet werden. Schade, dass in einer Welt, die derart gesättigt von Informationen ist, so wenig Raum für Schatten und Ambivalenzen bleibt.

Anja Kümmel

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