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Preisgekrönte Autorin. Marie-Claire Blais.

© Suhrkamp Verlag

„Drei Nächte, drei Tage“ von Marie-Claire Blais: Das Rauschen der Tropen

Marie-Claire Blais erzählt in „Drei Nächte, drei Tage“ vom Leben auf einer Insel. Ihre Geschichte bewegt sich zwischen heiterem Idyll und tiefem Abgrund.

Ihrem Roman „Drei Nächte, drei Tage“ (Aus dem Französischen von Nicola Denis, Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2020.391 Seiten, 24 €.) hat Marie-Claire Blais eine Passage aus Virginia Woolfs avanciertem Roman „Die Wellen“ vorangestellt.

Darin durchleuchtet Woolf mithilfe verschiedener Stimmen und in sinnlichen Wahrnehmungen und Gedankenströmen die Leben ihrer sechs Figuren von der Kindheit bis ins höhere Alter.

„Die Wellen“ entwickelt dabei tatsächlich ein kunstvolles, mitreißendes Auf und Ab wie von Ebbe und Flut. Die „Wellen“-Passage ist bei Blais in der deutschen Übersetzung auf Englisch zitiert, den unverwechselbaren Klang Woolf’- scher Prosa also hat der Leser im Ohr, wenn er sich an die Lektüre von „Drei Nächte, drei Tage“ macht.

Auch in dem 1995 erstmals veröffentlichten Roman der 1939 in Québec geborenen Kanadierin Marie-Claire Blais, die im Laufe ihrer Karriere fast sechzig Romane, darunter etliche preisgekrönte, sowie zahlreiche Theaterstücke und auch Lyrikbände publiziert hat, hört der Leser die Wellen rauschen.

Die Geschichte spielt auf einer tropischen Insel mitten im Golf von Mexiko. Das Meer ist entsprechend omnipräsent, das Exotische zentrales Element und das gesamte Setting wirkt wie gemalt, so plastisch erscheinen das leuchtende Rosaviolett der wuchernden Bougainvilleen, der smaragdgrün schimmernde Golf, die Orangen- und Limettenbäume, Krokodile, Schlangen, aber auch streunende Hunde, Flüchtlinge, Dealer und „böse Neger“, wie es heißt.

Zwischen heiterem Idyll und tiefem Abgrund

Und damit ist man mitten im, nun ja, in was eigentlich? Im Geschehen? Der Handlung? Die gibt es, aber nur rudimentär, in losen Versatzstücken oder verstreuten Puzzleteilen, die sich nicht zu einem vollständigen Bild fügen wollen.

Es ist wie bei Woolf eher die Bewegung, die zählt, bei Blais diejenige zwischen heiterem Idyll und tiefem Abgrund, zwischen Schönheit und Hässlichkeit, Reichtum und Armut, Leben und Tod, eine wellenartige Bewegung eben.

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Das Leben ist ambivalent. Zwischen unvereinbaren Extremen hin- und hergeworfen erscheint Renata, die Protagonistin, die nach einer OP zur Erholung auf die Insel gekommen ist und sich in einem labyrinthischen Strudel aus Vergangenem und Gegenwärtigem wiederfindet. Dieser Strudel besteht aus Ereignisfetzen, Bildern und Gedanken; ein innerer Strom, allerdings kein monologischer wie bei so vielen Autorinnen und Autoren der klassischen Moderne. Nein, Renatas Gedankenstrom ist ein polyfoner.

Wer Virginia Woolf kennt, weiß, wie nahe sie der modernen Malerei stand – im Kreis der Bloomsbury-Gruppe gab es etliche Künstler, allen voran ihr Freund und Mentor Roger Fry und natürlich ihre hochbegabte Schwester Vanessa Bell. Vermutlich hat sich auch Blais an der bildenden Kunst orientiert, am Impressionismus, am Post-Expressionismus, vor allem am Kubismus.

Dieser Roman gleicht einem Labyrinth

Ihr Roman, der einem Labyrinth gleicht, für das sinnbildhaft Mangrovensümpfe stehen, zeugt von einem ausgeprägten Willen zur Form, auch wenn diese, anders als bei Woolf, eher in die Breite strebt als in die Tiefe.

Es gibt auf knapp vierhundert Seiten keine Absätze, ja, die Autorin setzt scheinbar nicht einmal einen Punkt – zumindest ist das der Eindruck beim Lesen, da sich ihre Sätze nicht selten über viele, bisweilen Dutzende Seiten erstrecken.

Blais’ Modernismus wirkt angenehm aus der Zeit gefallen, wären da nicht die vielen Hinweise, die den Text in einer inzwischen auch wieder Vergangenheit gewordenen Gegenwart verorten, der des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

Rausch der tropischen Tage

Diese spiegelt sich hier in einem ganzen Tableau aus lebendigen, mitunter schillernden und sich dem Rausch der tropischen Tage und Nächte ergebenden Figuren.

Der Richter Claude bringt – gefiltert durch Renatas Gedanken – die Thematik von Gerechtigkeit, Verantwortlichkeit und des Elends der Welt ins Spiel, etwas, das die „Heldin“ neben ihrer Weiblichkeit und der Frage nach der Verortung der Frau in einer eher festgefahren anmutenden Ordnung der Dinge besonders umtreibt.

„Das Richteramt, die Aufgabe, über den anderen zu urteilen, war Männersache, aber sie hatte den Eindruck, dass eine Frau diese Macht für sich hätte beanspruchen sollen ...“ Wieder ein Wanken also. Das mag für Renata charakteristisch sein, ist es jedoch keinesfalls für ihre Schöpferin Marie-Claire Blais, wie dieser lesenswerte Roman beweist.

Tobias Schwartz

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