zum Hauptinhalt
Immer noch im Exil. Whistleblower Edward  Snowden erhält 2015 den norwegischen Preis für Meinungsfreiheit.

© Wolfgang Kumm/dpa

Drei Denkanstöße aus der Philosophie: Was bedeutet Meinungsfreiheit in einer Demokratie?

Der französische Denker Étienne Balibar widmet sich in seiner Essaysammlung „Freie Rede“ der Idee der Unabhängigkeit in Gesellschaften.

Es ist ein rhetorisches Spiel, das sich so nur in demokratischen Gesellschaften spielen lässt: Aufstehen, seine Meinung äußern, dann behaupten, man könne seine Meinung gar nicht mehr äußern.

Das Spiel hat Tradition: „Die freie Rede“ (La libre parole) hieß ein antisemitisches Journal, das um die Jahrhundertwende erschien. „Frankreich den Franzosen“ lautete der Untertitel. Sein Herausgeber, Édouard Drumont, fehlt in keiner Geschichte des Antisemitismus.

„Die freie Rede“ – so heißt die Essaysammlung von Étienne Balibar, die jetzt in deutscher Übersetzung (Diaphanes, 144 Seiten, 16 Euro) vorliegt, aber nicht. Sie heißt: „Freie Rede“.

Das klinge amerikanischer, nach free speech, schreibt Balibar. Aber auch, dass er diese „fundamentale Idee“ nicht den Rechten überlassen wolle.

Wer in den programmatischen Aufruf Drumonts aus dem Jahr 1892 hineinschaut, findet verschwörungstheoretische Deutungsmuster: von einem interessengeleiteten öffentlichen Leben ist da die Rede, von parteilicher Gefangenschaft, von geheimen Motiven - dagegen setzte Drumont seinen vorgeblichen Mut zur Wahrheit: rassistische Hetze.

In Demokratien ist Opposition normal

Die vorliegende Essay-Sammlung versammelt drei Denkanstöße, die auf Balibars Vorträge zwischen 2015 und 2018 zurückgehen, ergänzt um einen Artikel aus der „Libération“.

Der jüngste der Beiträge, „Demokratie und Meinungsfreiheit in Zeiten der Gewalt“, setzt sich mit der liberalen Tradition der Freiheitsrechte auseinander. Die Meinungsfreiheit will Balibar dabei in weitem Sinne verstanden wissen, als institutioneller Inbegriff dessen, was Habermas in seiner wegweisenden Studie 1962 die Öffentlichkeit nannte.

Dazu zählen für den französischen Philosophen die Freiheit der Presse und der Wissenschaft, die Religionsfreiheit, ebenso die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, aber auch die Unabhängigkeit der Justiz – mit einem Wort, die Institutionen, welche die Demokratisierung der Politik ermöglichten.

Demokratie versteht Balibar in pointierter Definition als die Regierungsform, „in der Opposition als völlig normal gilt“. Die Begriffsbestimmung ist leitend, wenn er sich mit der realen, nicht der zynisch beklagten Beschränkung der Unabhängigkeit der Presse befasst, etwa in der Türkei.

Zugrunde legt er weder eine geschichtsphilosophische Abstiegsgeschichte, welche die Demokratie immer in der Vergangenheit sucht, noch eine metaphysische Entdifferenzierung, die in der Demokratie immer schon den Totalitarismus lauern sieht. Balibar hat ein Hohelied auf die Meinungsfreiheit verfasst.

Hendrikje Schauer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false