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Gestrandet in Marseille. Marie (Paula Beer) und Georg (Franz Rogowski) warten auf ihre Ausreisepapiere.

© Schramm Film / Marco Krüger

Drama von Christian Petzold: „Transit“ ist ein erster Höhepunkt im Wettbewerb

Leben im Stillstand: Christian Petzold übersetzt im Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Transit“ Anna Seghers Exilgeschichte in die Gegenwart.

Von Andreas Busche

Fluchtgeschichten schwirren durch die Flure des mexikanischen Konsulats in Marseille, jede hat einen traumatischen Kern. Die Frau zum Beispiel, die sich im Wartesaal neben Georg (Franz Rogowski) setzt: Ein jüdisches Paar, das den Absprung nach Amerika gerade noch geschafft, hat ihr zwei Hunde überlassen, um die sie sich nun kümmern muss. Oder der deutsche Dirigent (Justus von Dohnányi), der ein Konzerthaus in Caracas übernehmen soll. Europa droht der Rückfall in barbarische Zeiten und er bekommt den Auftrag, in Südamerika die klassische Moderne aufzuführen. Georg kann die Geschichten seiner Schicksalsgenossen nicht mehr hören; jede ist individuell und doch klingen sie alle gleich. Sie verdichten sich im Transitraum der Geschichte zu einem vielstimmigen Raunen.

Christian Petzold sammelt in „Transit“ die Erfahrungen der Geflüchteten fast beiläufig ein. Sie bilden das Fundament einer Geistererzählung, in der die Toten neben den Lebenden existieren. Im Zombiefilm „Dawn of the Dead“, erinnert sich Georg , belagern die Untoten ein Einkaufszentrum: Der Mensch folgt selbst nach dem Ableben noch seinen Urinstinkten – sei es die Nähe eines Geliebten oder der Kapitalismus.

Genauso schicksalshaft begegnet Georg in den Straßen von Marseille der mysteriösen Marie (Paula Beer). Sie wartet auf ihren Mann, in dessen Besitz sich ihre Visa für eine gemeinsame Zukunft in Mexiko befinden. Georg hat die Identität eben jenes Schriftstellers angenommen, der in Paris Selbstmord beging – was Marie nicht weiß. Im Handgepäck trägt er Manuskripte des Toten bei sich, sein Freifahrtschein aus Europa heraus. Die „Faschisten“ nähern sich Marseille, in wenigen Tagen wird Frankreich vollständig besetzt sein.

Stillstand im Transitraum

Schon zu seinem letzten Film „Phoenix“ hatte Petzold erklärt, dass er sich nach zwei historischen Stoffen wieder der Gegenwart zuwenden wolle. „Transit“ beruht auf Anna Seghers’ autobiografischem Exilroman, den die jüdische Autorin Anfang der vierziger Jahre geschrieben hat. Um den Fallen einer historisierenden Dramatisierung zu entgehen, bedient sich Petzold eines gewagten Kunstgriffs, der auf wundersame Weise aufgeht. „Transit“ spielt in einem Zustand von Geschichtslosigkeit. Die „Faschisten“ besetzen Frankreich, doch der Film spielt im heutigen Marseille. So modern wie Seghers’ Ich-Erzählung wirkt auch Petzolds Geschichtsfilm. Die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart erzeugt lichtdurchflutete Bilder von absoluter Gegenwärtigkeit. „Geschichtsstille“ ist ein Begriff des Schriftstellers Georg K. Glaser, auf den Petzold sich bezieht. Er meint den Stillstand im Transitraum, der die Geflüchteten in eine Art Warteschleife versetzt.

Der Loop erzeugt eine Parallelrealität, die einzig den Bedingungen der Flucht unterliegt. In dieser „ausgesetzten“ Zeit freundet sich Georg mit dem Jungen Driss (Lilien Batman) an, der mit seiner Mutter Melissa (Maryam Zaree) im maghrebinischen Viertel der Hafenstadt wohnt. Auch sie sind Illegale, doch sie genießen nicht den Schutz der europäischen Bürokratie. Ihnen bleibt nur die gefährliche Route über die Pyrenäen. Petzold ist klug genug, zwischen Exil und Flucht zu differenzieren. Georg hat ganz andere Möglichkeiten als Driss und Melissa, „Transit“ wägt sehr umsichtig die unterschiedlichen Optionen seiner Figuren ab. Für Georg bedeutet Flucht auch, etwas zurückzulassen – den Begriff „Heimat“ vermeidet Petzold. Driss und seine Mutter fliehen mit leichtem Gepäck.

Fluchtgeschichten kreuzen sich

Der Arzt Richard (Godehard Giese) besitzt ebenfalls ein Visum für Amerika, auch er hat etwas zu verlieren. Marie, die mit ihm lebt, will die Hoffnung, ihren Mann wiederzusehen, nicht für eine ungewisse Zukunft mit einem Fremden aufgeben. Aber kann er die junge Frau alleine zurücklassen? „Sie wollen, dass ich ihr Gewissen erleichtere?“ fragt Georg den Arzt, dessen Fluchtgeschichte sich mit seiner eigenen auf unvorhergesehene Weise kreuzt. „Sie sehen mir nicht wie jemand aus, der anderen Absolution erteilt“, entgegnet der nüchtern.

Dem Stillstand des Transits stellt Petzold die filmische Bewegung der Passage gegenüber (so nennt man auch die Ausreisepapiere). Sobald das rettende Passagierschiff die Ränder des Cinemascopebilds verlassen hat, nimmt das Schicksal seinen Lauf.

18.2., 12 Uhr (HdBF) und 15 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 21.2., 18.30 Uhr (Filmkunst 66), 25.2., 16.45 Uhr (HdBF)

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