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Die Bewohner von Demmin in Mecklenburg-Vorpommern haben die grausame Vergangenheit ihrer Stadt verdrängt.

© Salzgeber

Dokumentarfilm „Über Leben in Demmin“: Last der Erinnerung

Angst vor den „roten Horden“: Martin Farkas' Dokumentarfilm „Über Leben in Demmin“ erzählt von den deutschen Massensuiziden im Mai 1945.

Von Andreas Busche

Wo kamen bloß all die Rasierklingen her? „Selbst die Frauen trugen welche bei sich, als wären sie vorbereitet gewesen“, meint ein Zeitzeuge in Martin Farkas’ Dokumentarfilm „Über Leben in Demmin“. Gewarnt waren die Einwohner der beschaulichen Hansestadt in Mecklenburg-Vorpommern, die idyllisch von den Flüssen Peene, Trebel und Tollense eingeschlossen liegt, tatsächlich im Mai 1945. Die NS-Propaganda hatte in den letzten Kriegsmonaten ganze Arbeit geleistet, um in der Bevölkerung die Angst vor den „roten Horden“ zu schüren. Der „Führer“ ging in der 200 Kilometer entfernten Reichshauptstadt mit gutem Beispiel voran und nahm sich das Leben. Als sich die Wehrmacht vor der anrückenden Roten Armee aus Demmin zurückzog, zerstörten die Soldaten hinter sich alle Brücken und überließen die wehrlose Bevölkerung ihrem Schicksal.

Zwischen dem 30. April und dem 4. Mai 1945 nahmen sich etwa 700 Einwohner von Demmin das Leben. Es war zahlenmäßig der größte Einzelfall der „Selbstmordepidemie“, die Deutschland in den letzten Zügen des NS-Regimes erschütterte. Den Begriff prägte der Historiker und Journalist Florian Huber 2015 in seinem Buch „Kind versprich mir, dass du dich erschießt“, das erstmals die Massensuizide der deutschen Bevölkerung im Osten angesichts der Niederlage seriös aufarbeitete.

Neonazis organisieren am 8. Mai einen "Friedensmarsch"

Es kursieren auch höhere Opferzahlen, sie finden sich auf den Webseiten rechtsradikaler Organisationen, die die Tragödie für ihre Zwecke instrumentalisieren. Jedes Jahr veranstalten Neonazis aus ganz Deutschland am 8. Mai in Demmin einen „Friedensmarsch“, um den Opfern der Roten Armee zu gedenken. „Wir verraten euch nicht“, steht auf den Trauerschleifen der Rechten. Ein Denkmal in Demmin trägt den Spruch: „Den Toten zu Ehr’, den Lebenden zur Pflicht“, ein Relikt der DDR. In Demmin prallen Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar aufeinander.

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Regisseur Farkas spricht mit Hinterbliebenen und den Einwohnern der Kleinstadt, stößt bei seinen Recherchen aber auf eine Mauer des Schweigens. „Mutti, nu’ ist aber mal genug“, sage ihre Tochter immer, wenn sie wieder vom Krieg zu sprechen anfange, erzählt eine Seniorin. Eine Antwort auf die Frage, warum so viele Menschen präventiv den Freitod wählten, hat niemand.

Angst und Scham in der Bevölkerung

Aber auch das Bild der „brandschatzenden Russen“ revidieren Zeitzeugen. Vielleicht haben Zwangsarbeiter die Feuer in der Stadt gelegt, aus Rache an der Bevölkerung, vermutet ein Mann. Die psychopathologische Gemengelage aus Angst vor Folter und Vergewaltigung sowie der Scham über die NS-Verbrechen ist Wasser auf die Mühlen der Rechten heute. „Man muss einmal mit dem Maschinengewehr durch das Gesocks“, sagt ein Neonazi über die linken Protestler, während er mit seinem Kind auf dem Spielplatz steht.

Farkas findet wenig Konkretes, an dem er seine Mentalitätsgeschichte von Demmin erzählen kann, aber die Ohnmacht der Menschen noch nach über 70 Jahren spricht Bände. „Die Last der Erinnerung, war vielleicht schlimmer als der Tod“, schreibt Huber. Der Regisseur Hans-Jürgen Syberberg, der im benachbarten Nossendorf lebt, bemüht im Film das Pathos, er beschwört „das Lichte auf dem Untergrund, der so schwer wiegt“. Und die Kirchengemeinde singt „We shall overcome“ – gegen das Vergessen.

In den Berliner Kinos Acud, Filmkunst 66, FSK, Krokodil, Tilsiter Lichtspiele

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