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Maya Mercers Fotos erzählen vom Leben der Teenager im Norden Kaliforniens.

© Maya Mercer

Documenta Fifteen: Papiertüten zu Flugblättern

Im neuen Göttinger Kunsthaus hat die Documenta eine Außenstelle: Die Idee dazu stammt vom Verleger Gerhard Steidl.

Während alle Blicke nach Kassel gerichtet sind, blieb der Documenta-Standort im knapp 50 Kilometer entfernten Göttingen bislang weitgehend unbemerkt. Dort ist mit der Gruppenausstellung „printing futures“ das einzige offizielle Partnerprojekt der Weltausstellung zu sehen. Die Düstere Straße liegt in der verkehrsberuhigten Altstadt. Seit einem Jahr steht dort zwischen mittelalterlichen Fachwerkhäusern der Neubau des Kunsthauses, ein 534 Quadratmeter großes Ausstellungshaus mit dem Schwerpunkt Fotografie und zeitgenössischer Arbeiten auf Papier.

Initiator und Gründungsdirektor ist der Göttinger Verleger Gerhard Steidl, dessen Buchkunst-Verlag samt Druckerei nur einen Steinwurf entfernt liegt. Fast 50 Jahre hat es von der ersten Idee bis zur Eröffnung gedauert, und ohne die Hartnäckigkeit des Verlegers wäre sie wohl nicht zustande gekommen.

In vergleichsweise kurzer Zeit hat er es jetzt geschafft, die Documenta in seine Heimatstadt zu holen. Beeindruckt habe ihn vor allem der gesellschaftsrelevante und kollektivistische Ansatz von Ruangrupa, sagte Steidl zur Eröffnung (die Ausstellung läuft bis zum 25. September). Diese Documenta zeige, „wie gänzlich anders Kunst aussehen könne, wenn man sie vom kommerziellen Kunstmarkt löst“.

11 Künstlerinnen und Künstler zeigen ihre Arbeiten

Doch der Göttinger Beitrag unterscheidet sich deutlich von Kassel. Statt Projekte von Kollektiven zeigt das Kunsthaus Arbeiten von elf Einzelkünstlern. 100 Tage lang dreht sich hier alles um das Material Papier in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Jeder Ausstellungsraum wird sich in dieser Zeit verändern, einige der Künstler arbeiten im Austausch mit den Besuchern direkt vor Ort. Etwa 30 Buchprojekte sollen anschließend die Arbeitsprozesse aus beiden Städten dokumentieren.

„Wer nicht denken will, fliegt raus“, mit diesem Beuys-Zitat werden die Besucher im Foyer begrüßt. Den Auftakt macht die indische Fotokünstlerin Dayanita Singh mit einer Hommage an das gedruckte Buch. Es wird im Kontext der Ausstellung selbst zum Kunstobjekt. Bücher mit 20 unterschiedlichen Fotomotiven auf den Buchdeckeln hängen an den Wänden und können von den Besuchern beliebig neu arrangiert und kuratiert werden. Ein Konzept, das auch in ihrer aktuellen Ausstellung im Martin Gropius Bau zu erleben ist (bis 7. August).

Shahidul Alam erzählt von Demonstrationen und Polizeigewalt

„Talking to an Archive“ heißt der Beitrag des Fotojournalisten, Schriftstellers und Menschenrechtsaktivisten Shahidul Alam aus Bangladesch. 2018 hat ihn das Time Magazine zur Person des Jahres gewählt. Es war das Jahr seiner Inhaftierung. Drei Monate saß er im Gefängnis, nachdem er die Regierung Bangladeshs für die Niederschlagung von Protesten scharf kritisiert hatte. Mit klarer Bildsprache erzählt er von den Demonstrationen, gewaltsamen Polizeieinsätzen und den vielen Überschwemmungen in dem von Umweltkatastrophen gebeutelten Land.

Zu sehen sind großflächige Kontaktbögen bislang unveröffentlichter Fotoserien, die unter Einbeziehung des Publikums gesichtet und für einen Fotoband ausgewählt werden. Shahidul Alam teilt sich den Raum mit einer Installation seiner Nichte Sofia Karim. Sie war es, die mit Ausstellungen in der Londoner Tate Modern Gallery gegen die Inhaftierung ihres Onkels protestierte. Die einfachen Papiertüten, in denen in Südostasien traditionell Samosa-Teigtaschen als Streetfood verkauft werden, transformierte sie, mit Slogans und Fotos bedruckt, in ein Medium des politischen Widerstands.

Albert Ostermaier schreibt Gedichte zu den Fotos

Mit poetischer Wucht empfangen die inszenierten Fotografien der franko-amerikanischen Künstlerin Maya Mercer. Zehn Jahre lebte sie in dem von Dürre und Armut geprägten Landstrich Yuba County im Norden Kaliforniens. Eindringliche Porträts zeigen das Leben einheimischer Teenager-Mädchen zwischen Tristesse, Suff und Langeweile. Bildgewaltig in Szene gesetzt mit einer leuchtenden Sepia-Colorierung. „Fotopapier in einem Blutbad entwickelt“ schreibt der Schriftsteller Albert Ostermaier, der jedes der 103 Fotos mit einem eigenen Gedicht kommentiert. Noch während der Ausstellung wird er aus diesen Gedichten ein Theaterstück entwickeln.

Gegenüber des Kunsthauses stellt in einem sanierungsbedürftigen Fachwerkgebäude der amerikanische Pop-Art- und Konzept-Künstler Jim Dine aus. Seit Jahren hat der 87-Jährige ein eigenes Atelier auf dem Steidlschen Verlagsgelände und pendelt zwischen Paris und Göttingen.

Radierungen und Lithografien mit bunten Blumen und Früchten hängen in den kleinen Räumen mit tiefen Decken und aufgeplatztem Fachwerk, kontrastreich abgesetzt zu dem Hassgedicht über das Böse in der heutigen Welt, das in Fragmenten mit schwarzer Farbe an den schiefen Wänden zu lesen ist.

Die Documenta sei ein Ritterschlag für Göttingen, sagte Oberbürgermeisterin Petra Broistedt. Sie hoffe, dass von der einen Million erwarteten Besucher in Kassel etwa zehn Prozent in Göttingen Station machen. Ob ihre Rechnung aufgeht? Das Göttinger Documenta-Debüt ist jedenfalls vielsprechend gestartet.

Bettina Hagen

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