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Christian Thielemann ist gebürtiger Berliner.

© Rikimaru Hotta

Dirigent Christian Thielemann: Diener der Partituren

Jeder Ton hat sein Gewicht: Zum 60. Geburtstag beschenkt sich der Dirigent Christian Thielemann mit einer Neueinspielung der Schumann-Sinfonien.

Eigentlich hätte der Junge an die frische Luft gemusst. Aber er wollte einfach nicht vom Flügel aufstehen. Im elterlichen Wohnzimmer pflügte er sich durch die Klavierauszüge der Wagner-Opern. Wenn die Großmutter wegen der nötigen Sauerstoffversorgung zu sehr drängelte, notfalls bei offener Terrassentür.

Die Mitschüler am Gymnasium Steglitz betrachteten Christian Thielemann mit gemischten Gefühlen: „Halb galt ich als Wundertier, halb als Aussätziger“, hat er in seiner Autobiografie „Mein Leben mit Wagner“ bekannt. Und beides habe ihm nichts ausgemacht.

Gleich nach dem Abitur kann er als Probenpianist an der Deutschen Oper anfangen, Ostern 1980 assistiert er Karajan in Salzburg beim „Parsifal“, 1981 Barenboim beim „Tristan“ in Bayreuth. Nach der klassischen Ochsentour durch die Provinz, von Gelsenkirchen über Karlsruhe, Hannover und Düsseldorf wird Thielemann mit 29 Jahren Chefdirigent in Nürnberg. 1997 kehrt er dann triumphal in seine Heimatstadt zurück, als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper.

„Nur ein kleines oberfränkisches Städtchen schwieg beharrlich“, heißt es in der Autobiografie, „und das irritierte mich.“ Im Sommer 2000 kann er schließlich endlich bei den Bayreuther Festspielen debütieren. Schnell wird Christian Thielemann dort zu einem prägenden Akteur, seit 2015 trägt er offiziell den Titel des „Musikdirektors der Festspiele“.

Der enorme Reifeprozess ist zu hören

Erst in Bayreuth, so sagt es der Dirigent rückblickend, sei er als Künstler richtig erwachsen geworden. Gerade weil er Richard Wagners Werke so bedingungslos liebt, weil er der Musik des „ultimativen Meisters der Hexenküche“ mit jeder Faser seines Körpers verfallen ist. „Im Konflikt mit meinem musikalischen Gefühlshaushalt habe ich gelernt zu disponieren. Ich musste plötzlich planen, vorausdenken, konnte mich nicht bloß dem Augenblick überlassen.“

Wer die Aufnahmen aus den Jahren 1995 bis 2013 hört, die die Deutsche Grammophon aus Anlass von Thielemanns heutigem 60. Geburtstag in einer Box mit einundzwanzig CDs zusammengefasst hat, kann den enormen Reifeprozess ermessen, den der dirigentische Autodidakt durchlaufen hat. Was zuerst oft noch ein Wollen war, hat sich zur höchsten Meisterschaft entwickelt.

Thielemanns Wagner-Interpretationen sind unantastbar, souverän führt er dabei eine Fähigkeit vor, die er „Klangintensitäts-Regie“ nennt. Mit der Dresdner Staatskapelle, die er inzwischen in der siebten Saison leitet, hat er sich in die Tiefenschichten der deutschen Romantik gebohrt. Nach intensiver Beschäftigung mit Brahms und Bruckner haben sich diese symbiotischen Partner zuletzt Robert Schumann zugewandt und damit dem Fantastischen, dem Poetischen und den Abgründen des Biedermeier, wie es Thielemann formuliert. Als nachträgliches Geburtstagsgeschenk bringt Sony am Freitag die vier Schumann-Sinfonien heraus, in einem Mitschnitt aus der Tokioter Suntory Hall vom vergangenen Herbst.

Was gemeint ist, wenn vom traditionellen deutschen Klang geraunt wird, lässt sich hier nachvollziehen. Die Dichte und die Kompaktheit des Zusammenspiels sind dabei wichtige Faktoren, jeder Ton, so scheint es, wird aus dem Boden geboren. Jeder Ton hat Gewicht – weil er bedeutsam ist. Die Dresdner Staatskapelle gehört zu den ältesten Orchestern der Welt, und diese lange, glorreiche Geschichte schwingt mit im Spiel der Musikerinnen und Musiker. Im Detail mögen sie weniger wendig, weniger reaktionsschnell sein als modernere, kosmopolitischere Orchester wie die Berliner Philharmoniker, der Dirigent muss hier zunächst viel Energie ins Ensemble pumpen, um das Kollektiv gewissermaßen anzuschieben. Wenn die Dresdner Staatskapelle aber in Gang gekommen ist, entfaltet sie eine mitreißende Emphase, gelingen grandiose Spannungsbögen, werden Melodien besonders beseelt ausgesungen, von den Instrumentalsolisten ebenso wie von den Stimmgruppen.

Kein Maestro, der durch Gesten beeindruckt

Rührend altmodisch ist diese Musizierhaltung. Ein gemeinsamer Stolz, das musikalische Erbe der Kulturnation Deutschland zu pflegen, wird hörbar, mit größter Ernsthaftigkeit nähert sich das Orchester den Denkmälern der Tonkunst. Die Konzerte rücken dabei durchaus auch mal in die Nähe von kunstreligiösen Weihefeiern. Damit passt die Dresdner Staatskapelle ideal zu Christian Thielemann, der ja auch ein bekennender Traditionalist ist, sich selber als Kapellmeister definiert, also als Diener der Partituren, und nicht als Maestro, der durch eine zur Schau gestellte Aura beeindruckt oder gar durch seine ausgefeilte Gesten-Choreografie.

„Eine solche Art von Attitüde oder Allüre finde ich grauenhaft“, betont Thielemann in einem Interview, das im Booklet der Schumann-Doppel-CD abgedruckt ist. „Dirigenten sind nicht vergleichbar mit Filmschauspielern, die auf der Leinwand ein Millionenpublikum durch ihr Aussehen oder ihr Charisma anziehen. Meinen Körper habe ich immer im Sinne der Sache eingesetzt. Dirigenten werden erst durch ihre Liebe zur Musik ästhetisch.“

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