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Kultur: Diktatur der Ochsen

Minnesang und Apokalypse: Peter Handke erzählt in „Kali“ aus der Gegenwartshölle

Von Gregor Dotzauer

Zurück zum Dichter Peter Handke. Endlich zurück zur gravitätischen Langsamkeit seines Erzählens, zum psalmodierenden Klang seiner Sätze, zurück zur Farben- und Formengewissheit, mit der er aus den unscheinbarsten Dingen Bilder eines Weltganzen zusammenschießen lässt. Nichts wäre schöner nach dem Gezerre um den Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preis, den Handke im letzten Jahr erst erhalten sollte, dann nicht durfte und schließlich nicht mehr wollte. Dass mit dem traditionell aufklärerisch geprägten Preis ausdrücklich auch seine Einlassungen zum Zerfall des Balkans ausgezeichnet werden sollten, führte zum Eklat. Leute, die seine Bücher nie gelesen hatten, zogen über ihn her. Er selbst, der „Umwegzeuge“, schrieb sich mit wirren Erklärungen seiner proserbischen Passion um Kopf und Kragen. Und in der kritischen Öffentlichkeit standen einander zwei grundverschiedene Verteidigungsstrategien gegenüber.

Die eine berief sich, im Plädoyer für die Einheit von Poet und politisierendem Kopf, auf das Privileg des Dichters, eine tiefere Schicht der Wirklichkeit wahrzunehmen – als könnte es eine literarische Wahrheit geben, die historische Tatsachen umstößt und übertrumpft. Die andere bestand gerade darin, den Ideologen Handke, der sich in die Parteinahme für ein nationalistisches Serbien verrannt hatte, vom über allen Wassern schwebenden Künstler zu trennen. Wie absurd es zeitweise herging, zeigt eine Äußerung des Schriftstellers Martin Mosebach, der Handkes Rede am Grab von Slobodan Milosevic allen Ernstes mit dem Hinweis auf die griechische Antigone entschuldigte, die ihren Bruder gegen Kreons politischen Widerstand bestattet hatte.

Die Gelegenheit zum Aufatmen ist da. „Kali“, Handkes jüngstes Buch, hat mit alledem nichts zu tun, und die ersten Seiten versprechen jenen geduldigen Zug, wie ihn Handke besaß, bevor eine Flut von Klammern, Einschüben und Fragezeichen seine Texte bis zur Unlesbarkeit aufschwemmte. „Kali“ ist ein Nacht- und Traumstück, dessen Szenen in kurzen Absätzen aufflackern wie unter schlafschweren, sandverklebten Augenlidern. Eine Reise durch ein hypnotisches Reich des Zwielichts, das in einen „Toten Winkel“ führt, in ein „Land, aus welchem keiner wiederkehrt“. Ein namen- und gestaltloser Ich-Erzähler erinnert sich mit stotterndem Gedächtnis an eine gleichfalls namen- und gestaltlose Protagonistin, verliert sie abwechselnd und findet sie wieder, sieht sie mal verschwommen, mal überscharf, immer im Bewusstsein, nicht unbeteiligt zu sein: „Auch mir hat sie Angst gemacht, macht sie Angst. Aber ich möchte mich ihr stellen.“

Und dann, nach den ersten Seiten, auf denen „Kali“ einen zuverlässigen Ton entwickelt, zerbricht das ruhig Prosaische auch schon. Das Buch kippt vom dramatischen Gedicht in die kulturkritische Predigt. Spätestens wenn Handke altfranzösische Verse einschmuggelt, weiß man nicht mehr, ob es hier ganz hoch hinaus geht oder ganz tief hinunter. Denn hier beginnt, um von der Macht einer unbedingten, schicksalhaften, welterlösenden Liebe zu erzählen, die Überschreibung eines höfischen Versromans vom Ende des 12. Jahrhunderts: des die Minne preisenden „Lancelot“ von Chrétien de Troyes.

Überhaupt geht es zwischen Artus-Sage, Biblischem und sinnentleerter Gegenwart hin und her. Zum Ende hin geht es, das Erhabene und das zutiefst Lächerliche ausmessend, buchstäblich einmal auf den Gipfel eines Kalisalzbergs hinauf und einmal in den Bergwerksschacht hinunter – was wiederum in eine Umkehrung des Mythos vom Turmbau zu Babel mündet. „Kali“ ist ein wilder Remix aus allen Heils- und Unheilsgedanken, die Handke seit dem Programmstück „Über die Dörfer“ (1981) und bis zu seinem 700-Seiten-Roman „Der Bildverlust“ (2002) umtreiben. Wie seine Erzählung „Don Juan“ (2004) stellt „Kali“ überdies die Frage, ob und wie sich archetypische Figuren und Konstellationen ins Heute retten lassen. Handke intoniert sie hier mit radikaler Hoffnungslosigkeit.

„Die Unheilstifter der Epoche“, heißt es in einer Predigt aus dem toten Winkel, „sie sind keine Bösen, keine Dämonen. Jede Spur des eigens Bösen in ihnen ist ausgemerzt. An dem Unheil, das wir durch unser bloßes Dasein anrichten, sind wir unschuldig. Nicht mehr die vorsätzlich, schon im Instinkt, bösen Stiere zertrampeln, spießen auf, schlitzen auf, sondern die stieren zeitgemäßen Ochsen, vorsatzlos, bewusstlos, schlechter noch: ahnungslos. Unsere Jetzt-Leute zielen nicht erklärt auf das Unheil ab. Sie sind das Unheil. Das schuldlos Schlechte nimmt inzwischen, machtvoll und auch nicht mehr zu bekämpfen, die Stelle des einstigen Bösen ein."

Das schuldlos Schlechte regiert kein fernes Land, keine Antiutopie, sondern das grause Hier und Jetzt, mit einem Wort: die Hölle. „Und ganz anders als in der Vorstellung“, heißt es. „Und ganz anders als in der Überlieferung. Eine Hölle ohne Teufel. Eine Hölle ohne Flammen. Eine Hölle ohne Schall und Wahn, erzählbar von niemandem. Eine melodische Hölle, eine summende Hölle, eine Hölle aus zehn Milliarden verschiedener Erkennungsmelodien. Eine Hölle der Apparaturen, Tastaturen und Systeme.“

„Kali“ versucht sie dennoch zu erzählen: als unendlich stille Hinterglasapokalypse bei bengalischer Beleuchtung. Man trifft Bettler dabei, Gefesselte, Herumirrende, ein wahres Unglücksheer, das aber letztlich kein Gesicht hat und keine Geschichte, nichts, worin Menschen sich selbst erkennen oder woran sie sich festhalten könnten. Und doch steht das ganze Buch im Zeichen eines anderen – nur dass seine Behauptung ebenso unbestimmt ist wie Handkes Hölle.

„Kali“ erzählt von einer Stimme, die „anders warm“ ist, von einem Zug, der eine „grundandere Geschwindigkeit“ fährt, von einem Abendkleid, das „verschieden von allen üblichen Abendkleidern“ ist – ganz, als hätte Handke noch die „andersgelben Nudelnester“ im Sinn, die er einst auf dem Markt in Belgrad fand. Vor allem aber führt er eine Protagonistin ein, die anfangs die Sängerin genannt wird, die Musikantin und dann „die andere“ heißt: „eine Frau wie nur je eine.“ Sie ist die Überfrau, das Superweib, die schwarze Witwe – und trotzdem eine Dame ohne Unterleib. Denn vom Bann ihres Blick wird jeder vernichtet, der sich mit ihr einlässt. Selbst der ihr bestimmte Mann, der Salzherr, fürchtet um sein Leben: „Sie sind gekommen, um zu sterben und mich mit in den Tod zu nehmen“, sagt er ihr. „Sie, Frau, verkörpern den Tod.“ Erst der Schneewind, der Schneewind, das himmlische Kind, wird beide von diesem Fluch befreien.

Auf dieser Ebene ist „Kali“ oft nicht mehr als ein hochliterarisch verblendetes Stück Fantasy, das unter dem metaphysischen Kitsch, den Handke ihm auflädt, zusammenbricht. Als Ideenroman ist es ungleich fataler. Sein Kulturfatalismus kennt keine innere Polyfonie, kein Abwägen, keine Dialektik – und keine lebensweltliche Verankerung. Alle Figuren verfließen im Einheitssound.

Gerade das dezidiert Unpolitische dieses Buchs ist deshalb das Politische und seine vollkommene Ortlosigkeit ein fragwürdiges Überall. Handkes Literatur ist im Innersten von einer Realitätsblindheit befallen, die ihre Empfindsamkeit Lügen straft. Wo er verstreute Wahrnehmungsfragmente einsammelt, gelingen ihm wieder kleine Offenbarungen. Wo er sie zu einer großen Wahrheit auftürmt, neigt er zur gefährlichen Rolle eines Propheten, der jeden beliebigen Ort beseelen zu können glaubt – und dann eben auch Serbien als das andere entdeckt.

Handkes visionäre Kraft hält auch in „Kali“ mit seiner intellektuellen nicht Schritt, und seine Lust, mythologische Räume zu öffnen, konkurriert mit deren narzisstischer Abdichtung. Literatur aber ist kein Ort frei fabulierender Unschuld, sondern eine Form kommunizierbaren Weltwissens, die sich mit allem, was Philosophen, Theologen, Historiker, ja auch Naturwissenschaftler zu sagen haben, auf seine spezifische Weise messen können muss.

„Und nun ausgezittert“, heißt es am Ende. „Weg von den Dramen. Weg auch von den Liedern. Und auch genug gepredigt. Zurück zur Prosa.“ Nach allem, womit „Kali“ einen konfrontiert, ist es dorthin ein weiter Weg.

Peter Handke: Kali. Eine Vorwintergeschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007. 161 Seiten, 16,80 €.

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