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Ist das die Zukunft? Spenden mit dem Kartenlesegerät

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Digitalisierung und Armut: Wenn Obdachlose mit EC-Kartenlesegeräten betteln müssen

Bargeldloser Zahlungsverkehr droht die Ärmsten abzuhängen. In der Berliner U-Bahn trifft man bereits auf Obdachlose mit Kartenlesegeräten. Ein Kommentar.

Kürzlich in der U8, Höhe Hermannplatz. Ein stark angetrunkener, bärtiger Mann torkelt ohne Mundschutz durch die Bahn, redet ein Kauderwelsch aus Spanisch und Deutsch vor sich hin. Irgendwann lässt er sich neben eine junge Frau in den Sitz fallen. „¿Tienes dinero? Ein bisschen Kleingeld übrig?“. Sie kramt im Rucksack, bietet ihm ein Gebäckstück an. „Keine Lust auf Süßes“, erwidert er. Geld habe sie aber leider nicht dabei, nur ihre EC-Karte. „Kein Problem!“

Mit einem triumphalen Lächeln greift der Mann in seine Einkaufstasche, zückt ein Smartphone und ein Kartenlesegerät. „Wieviel willst Du überweisen?“. Ungläubiges Lachen schallt unter den FFP2-Masken der Anwesenden hervor. Fünf Euro, sagt die verdatterte Frau. Er führt die Karte ein, tippt auf den Tasten herum. Gespanntes Warten. Doch der Empfang ist hier unten schlecht. Derweil erklärt der findige Mittellose, dass die 29 Euro für das Gerät eine gute Investition waren. Nur ein Prozent der Spende müsse man abführen.

Unweigerlich muss man an das Geschäftsmodell des gerissenen Peachum in Brechts „Dreigroschenoper“, denken, der das Betteln zum durchorganisierten Wirtschaftszweig ausbaut. Doch in der realen Welt werden die Ärmsten durch die Digitalisierung immer weiter ausgeschlossen – bargeldloser Zahlungsverkehr ist voraussetzungsreich. Es braucht ein Konto und technische Geräte.

Bargeldloser Zahlungsverkehr ist voraussetzungsreich

In Schweden sieht man im Alltag kaum noch Münzen und Scheine. Bereits 2013 wurden darum Verkäufer eines Obdachlosenmagazins in Stockholm mit Kartenlesegeräten ausgerüstet. Das wirkte sich positiv auf die Einnahmen aus. Wenn der Geber das Geld nicht sieht, scheint er großzügiger zu sein. Spätestens wenn die Spende mit dem Smartphone sich durchsetzt, wird es auch hierzulande keine Ausreden mehr auf der Straße geben.

An der Boddinstraße reißt der Mann in der U8 jubelnd die Hände in die Höhe. „Überweisung ist da!“. Und wo er gerade die Aufmerksamkeit des Abteils habe, hätte er noch eine Botschaft: „Glaubt nicht an den Kapitalismus!“ Die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr ist eben noch lange nicht mit gesellschaftlicher Teilhabe zu verwechseln. Oder um noch einmal Peachum aus der „Dreigroschenoper“ zu Wort kommen zu lassen: „Wer wollt auf Erden nicht ein Paradies? / Doch die Verhältnisse, gestatten sie’s?“

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