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Tim Etchells ist der Kopf der Gruppe Forced Entertainment. 

© Artmax

Digitales Coronastück: Ganz normaler Wahnsinn im Homeoffice

Das britische Kollektiv Forced Entertainment zeigt sein Stück „End Meeting For All“ auf der Seite des HAU. Tim Etchells, Kopf der Gruppe, über Verbundenheit in Videokonferenzen.

Der britische Theaterautor, Performer, Regisseur und Lichtkünstler Tim Etchells, Kopf der Gruppe Forced Entertainment, hält sich gegenwärtig in London auf. Seine Kollegen leben in Sheffield und Berlin. Eigentlich hätte die Gruppe im April mit einem neuen Stück durch Deutschland touren sollen. Stattdessen bringen Forced Entertainment nun eine Online-Performance in drei Teilen auf dem Youtube-Kanal des HAU zur Premiere: „End Meeting For All“.

Tim Etchells, was vermissen Sie am meisten in der Coronakrise?
Leute persönlich zu treffen. Mein Vater lebt allein, ich habe ihn seit Wochen nicht gesehen, meine Kinder auch nicht. Und ich vermisse es, im Probenraum zu arbeiten.

Wie erleben Sie die Pandemie in Großbritannien? Ihr Land hat es hart getroffen.
Wir befinden uns als Briten bekanntlich in der absurden Situation, dass wir uns vom Rest Europas trennen wollen, obwohl gemeinsame Anstrengungen gerade wichtiger wären denn je. Unsere Regierung hat sich an EU-Maßnahmen zur Besorgung von Schutzkleidung oder Masken nicht beteiligt, sie hat die Realität völlig verkannt und macht einen furchtbaren Job. Das alles ist eine große Schande.

Hat die Coronakrise die Stimmung verändert, was den Brexit betrifft?
Ich fürchte, es ist wie bei Trump. Leute, die Trump oder den Brexit unterstützen, lassen sich von den Fakten nicht aus dem Konzept bringen. Die Idee des Brexit war immer dumm, jetzt wird das Ausmaß dieser Dummheit offensichtlich, aber ich glaube nicht, dass irgendein Brexiteer sich von der Realität umstimmen lässt.

Wird Johnson versuchen, den Brexit inmitten des Corona-Chaos durchzuziehen?
Ich wäre sehr überrascht, wenn nicht. In der vergangenen Woche erst hat einer der Regierungsjungs im Fernsehen gesagt, man sehe doch jetzt, wie wichtig es sei, dass Großbritannien sich abschotte. Sie verkaufen uns immer noch das Märchen, die Isolation sei der Königsweg. Totaler Nonsens.

Isolation ist auch das Stichwort für das Projekt „End Meeting For All“, das Sie mit Forced Entertainment digital realisieren.
Als die Krise eskaliert ist, waren wir mitten in den Proben zu einer neuen Performance, „Under Bright Lights“, die wir am HAU, am Mousonturm Frankfurt und im PACT Zollverein Essen zeigen wollten. Im März wurde klar, dass die Premiere wohl nicht stattfinden wird. Zusammen mit den Partner-Theatern haben wir dann die Idee eines Online-Projekts in drei Episoden entwickelt.

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Worum wird es gehen?
Unser Ausgangspunkt ist der Umstand, dass viele Menschen jetzt von zu Hause aus arbeiten müssen. Es gibt eine Unmenge an Zoom- oder Skype-Meetings, auch wir als Forced Entertainment haben etliche Videokonferenzen abgehalten. Damit spielt „End Meeting For All“. 

Wir haben die Form eines Splitscreens gewählt, eine Art digitale Bühne aus sechs parallelen Bildschirmen. Während wir reden, passieren alltägliche Dinge. Der Paketbote klingelt an der Tür, die Katze läuft über die Tastatur, Kinder platzen rein…

Der normale Homeoffice-Wahnsinn.
Genau. Im Zentrum steht für uns diese seltsame Gleichzeitigkeit von Verbundenheit und Getrenntsein in Videokonferenzen. Es bleibt doch immer ein Gefühl von Distanz. Das spitzen wir zu. Auf unseren sechs Screens prallen verschiedene Realitäten aufeinander, unterschiedliche häusliche Situationen und Stimmungen. 

„Finanziell können wir bis dieses Jahr überleben“

Allmählich löst sich dabei das Zeitgefühl auf. Hat das Meeting schon begonnen, oder sind wir noch beim Vorgeplänkel? Reden die Menschen miteinander, oder sind sie im eigenen Kopf gefangen?

Werden wir uns an das Theater des Social Distancing gewöhnen müssen?
Was das betrifft, bin ich Pessimist. Nach allem, was man liest, wird die Entwicklung von Impfstoffen Jahre brauchen. Womöglich wird sich 2021 nicht wesentlich von 2020 unterscheiden. Vielleicht ist dieses Projekt nur der Auftakt zu einer Serie von Stücken für sechs Bildschirme.

Was würde es für Forced Entertainment bedeuten, anderthalb Jahre nicht live auftreten zu können?
Finanziell können wir bis dieses Jahr überleben. Wenn sich die Krise weiter hinzieht, wird es hart. Ein Großteil unserer Einnahmen stammt aus Koproduktionen und Tourneen. Wir erhalten Geld von der britischen Regierung, aber ohne Tour-Einnahmen kommen wir nicht über die Runden. Wir haben dazu ein Zoom-Meeting angesetzt. Ein echtes, hoffentlich kommen wir nicht durcheinander.
[„End Meeting for All“: Di, 28.4., 21 Uhr / HAU-Youtube-Kanal]

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