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Erst Freund, dann Feind von Google. Der Ideenhistoriker Robert Darnton, Direktor von Harvards Widener Library, ist eine treibende Kraft der DPLA. Foto: Bryce Vickmark/Redux/laif

© Bryce Vickmark/Redux/Redux/laif

Digital Public Library of America eröffnet: Virtuelle Bibliotheken: Aller Welts Wissen

Wer spricht noch von Google Books? Nächste Woche öffnet die Digital Public Library of America ihre Pforten und versucht, den Traum von einer Universalbibliothek wieder an die Idee des Gemeinwohls zu knüpfen.

Von Gregor Dotzauer

Ein paar fragile Jahre lang waren sie ziemlich beste Freunde. Viele große Bibliotheken, von der Harvard University Library bis zur Bayerischen Staatsbibliothek, von der Bodleian Library in Oxford bis zur katalonischen Nationalbibliothek in Barcelona, schätzten sich glücklich, in Google einen Weggefährten gefunden zu haben, der ihre Bestände kostenlos digitalisiert. Das gesamte Wissen dieser Welt, so lautete die unbescheidene Hoffnung, werde bald jedem jederzeit zur Verfügung stehen. Quertreiber wie Jean-Noël Jeanneney, damals Direktor der Bibliothèque Nationale de France, beklagten zwar einen fatalen Überhang englischsprachiger Bücher, und Autoren wie Verleger reichten von den offiziellen Anfängen des Unternehmens im Oktober 2004 publizistisch und juristisch Beschwerde ein. Sie empörten sich darüber, nie um ihre Zustimmung gebeten worden zu sein.

Dennoch sah es so aus, als könnte Google seinen Plan, bis 2015 insgesamt 15 Millionen Bücher einzuscannen, für alle Seiten gewinnbringend in die Tat umsetzen. Kompromisse und Beteiligungsangebote bei Titeln, die noch nicht rechtefrei waren, schienen es möglich zu machen. Das Scheitern eines Vergleichs im März 2011, des Google Settlement, hat der Weltbibliothek aber erst einmal ein Ende gesetzt. Zu groß war der Unmut, dass Bibliotheken den Zugang zu Datenbanken bezahlen sollten, die sie zuvor gratis mit Inhalten gefüllt hatten. Zu stark waren die Interessenkollisionen der Parteien bei noch auf dem Markt befindlichen Büchern – auch wenn es nur Textschnipsel zu sehen gab. Google Books existiert jenseits der gemeinfreien Stoffe deshalb im Moment vor allem als Vertriebsplattform mit Links zu den Vertreibern der Druckausgaben.

Die ursprüngliche Idee aber lebt. Ihre überzeugtesten Anwälte wollen sie in die Sphäre eines von keinerlei kommerziellen Interessen beschädigten Gemeinwohls zurückholen. Mit der Digital Public Library of America (DPLA) soll am kommenden Donnerstag, den 18. April, unter der Adresse http://dp.la eine neue glorreiche Zukunft beginnen. Robert Darnton, Direktor der Harvard University Library und ein Wortführer des Kampfs gegen Google, beruft sich in einem manifestartigen Essay für die „New York Review of Books“ auf die Werte der Aufklärung und die beiden Grundzüge der amerikanischen Zivilisation: Utopismus und Pragmatismus. „Was“, so fragt er, „könnte utopischer sein als ein Projekt, das kulturelle Erbe der Menschheit allen Menschen verfügbar zu machen? Was könnte pragmatischer sein, als ein System zu entwerfen, Millionen von Megabytes zu verkoppeln und sie Lesern in der Form leicht zugänglicher Texte zur Verfügung zu stellen?“ Das hat man vor zehn Jahren schon einmal fast genauso gehört.

Darnton macht denn auch kein Hehl daraus, von Google inspiriert worden zu sein. Und er gesteht auch, dem Unternehmen die Public-Domain-Titel seiner Bibliothek zur Verfügung gestellt zu haben, bevor ihm das Ganze unheimlich wurde. Die DPLA ist von daher auch ein verspätetes Experiment über das Spiel der Kräfte in einer Gesellschaft, die sich viel zu lange in der Sicherheit wiegte, der Markt werde auch die Wissensökonomie regeln. Dabei geht es nicht nur um Verteilungsgerechtigkeit. Sondern auch darum, inwieweit Wissen die Form einer Ware annehmen soll – und letztlich um die Frage, was sich als Wissen überhaupt definieren lässt. Gemessen an der Selbstverständlichkeit, mit der sich Google und Amazon im Alltag eingenistet haben, sind solche Definitionen ein fast aussichtsloses Unterfangen.

Man muss nicht Googles Leitspruch „Don’t be evil“ in Zweifel ziehen, um auf dem Unterschied zwischen einem börsennotierten Weltkonzern und einer öffentlichen Non-Profit-Institution zu beharren. Google geht es um wirtschaftliche Expansion, der DPLA als amerikaweitem Zusammenschluss von Universitäten und Stiftungen in nichtstaatlicher Initiative um ein Ideal. Zur Debatte steht damit auch, ob Public-Private-Partnerships auf solchen Gebieten überhaupt tragfähig sind.

If content is king, then context is queen

Erst Freund, dann Feind von Google. Der Ideenhistoriker Robert Darnton, Direktor von Harvards Widener Library, ist eine treibende Kraft der DPLA. Foto: Bryce Vickmark/Redux/laif
Erst Freund, dann Feind von Google. Der Ideenhistoriker Robert Darnton, Direktor von Harvards Widener Library, ist eine treibende Kraft der DPLA. Foto: Bryce Vickmark/Redux/laif

© Bryce Vickmark/Redux/Redux/laif

Das große Vorbild der DPLA ist die EU-initiierte Europeana (www.europeana.eu). Mit ihr kooperiert sie und zeigt eine Ausstellung über europäische Einwanderer, wie sie ist die DPLA ein Portal oder ein Datenaggregator. Sie verwahrt nicht die digitalen Dokumente selbst, sondern nur deren Metadaten und verlinkt diese zu den betreffenden Büchereien und Archiven und deren Servern. Darin unterscheidet sie sich von Google. Die Ironie der Geschichte liegt allerdings darin, dass die DPLA ähnlichen Problemen wie Google ins Auge sieht. Denn was ist eine digitale Bibliothek wert, die je nach nationaler Regelung den größten Teil des 20. Jahrhunderts wegsperren muss?

„Das größte Hindernis für das Wachstum der DPLA liegt im Recht, nicht in den Finanzen“, schreibt Darnton. Das kann man auch von der Deutschen Digitalen Bibliothek (www.deutsche-digitale-bibliothek.de) behaupten, die vor kurzem als deutscher Beitrag zur Europeana stieß. Die Karenzzeit, die das hiesige Urheberrecht Werken 70 Jahre über den Tod ihres Autors hinaus auferlegt, hat seltsame Konsequenzen.

„In Stahlgewittern“ beispielsweise, Ernst Jüngers 1920 in einer ersten Fassung erschienenes Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg, wird hierzulande erst im Jahr 2068 frei zugänglich sein. Während der legendäre Text via Deutsche Digitale Bibliothek und Europeana unzugänglich bleibt, kann er in der DPLA ab Donnerstag gelesen werden – im angeschlossenen Internet Archive www.archive.org ist er seit Jahren öffentlich zugänglich. Das lässt sich allenfalls als indirekte Subvention des Stuttgarter Verlags Klett-Cotta verteidigen, der den Titel mittlerweile in der 48. Auflage publiziert.

Neben juristischer Liberalisierung ist aber auch technische Fantasie gefragt. Warum sollten virtuelle Bibliotheken Texte nur zur reinen Onlinelektüre, nicht aber zum Download und zum Drucken anbieten oder Dateien schlicht mit einem Verfallsdatum belegen? Warum sollte es nicht gebührenpflichtige Premium-Accounts geben? Urheberrechtsregelungen müssen sich weltweit aufeinander zu bewegen – im Bewusstsein, dass private und öffentliche Interessen auch unter den günstigsten Bedingungen auf Ausgleich dringen.

Das ist nicht nur ein Problem der westlichen Welt. Chinas größte Suchmaschine Baidu brachte es mit seinem Buchportal Wenku (wenku.baidu.com) zu einem Copyright-Skandal, der denjenigen von Google noch übertreffen dürfte. Erst vor zwei Jahren musste das Unternehmen 2,8 Millionen gescannte Dateien vom Netz nehmen, nachdem Autoren Baidu zu Recht der Piraterie angeklagt hatten. Das Unternehmen versucht seitdem, Regelungen mit ihnen auszuhandeln.

Welches Modell auf diesem komplexen Feld obsiegt, das auch die „Open Access“Debatte einschließt, ist offen. Man muss nicht so weit gehen wie Dan Cohen, ein Gründungsdirektor der DPLA, der im Interview mit www.thedigitalshift.com hofft, dass möglichst alle eingestellten Dateien das CC0-Siegel tragen. Es ist dies die Zero-Kennzeichnung des Creative-Commons-Systems, derzufolge der jeweilige Inhalt kopiert, verändert und sogar zu kommerziellen Zwecken eingesetzt werden kann.

Cohen hat indes wahrscheinlich recht, wenn er glaubt, „dass es besser ist, eine Nation unersättlicher Leser zu haben, die einige ihrer Bücher kostenlos bekommen, als eine Nation von unregelmäßigen Lesern, die immer zahlen.“ Und gar nicht rütteln lässt sich an der Feststellung: „Die große Mehrzahl der Bücher erwirtschaftet nach den ersten Jahren wenig bis gar kein Geld.“

Die DPLA wird mit etwas Glück noch einmal Schwung in die deutsche Diskussion bringen: nicht zuletzt durch die erklärte Absicht, dem aus Elitehäusern stammenden Planungsstab ein Grassroots-Fundament zu geben. Die DPLA will das stationäre Netzwerk kommunaler und universitärer Bibliotheken in den USA um keinen Preis ersetzen. Das hat auch damit zu tun, dass diese sowohl soziale Zentren ihrer jeweiligen Gemeinwesen bleiben sollen wie als dezentrale Zulieferer von Dokumenten und persönlichen Zeugnissen ihrer Benutzer fungieren: die Bibliothek als Aufbewahrungsort historischer Erfahrungen.

If content is king, then context is queen, heißt eine schöne, nach vielen Richtungen auslegbare Formel der Onlinewelt. Es sieht so aus, als könnte ihr die DPLA noch einmal eine neue Bedeutung geben.

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