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Dieser Mann ist Pop: Diedrich Diederichsen.

© Mike Wolff

Diedrich Diederichsens Buch "Über Pop-Musik": Was ist das denn für ein Typ?

Zwischen Kunst und Kulturindustrie, zwischen feinstem Pop und brutalster Theorie: Diedrich Diederichsens Buch „Über Pop-Musik“.

Der Pop, so scheint es, erlebt eine goldene Zeit. Das gilt natürlich nicht so sehr für die Popmusikindustrie, die weniger kriselt als vor fünf, sechs Jahren, aber weiter nach ultimativ gewinnbringenden Geschäftsmodellen sucht. Nein, das betrifft vor allem die Akzeptanz von Pop auf institutioneller Ebene, politisch wie kulturell. So ist in Berlin mit Tim Renner ein Mann mit viel Popkompetenz Kulturstaatssekretär geworden. Renner war Chef des Musikkonzerns Universal, er gebietet als Inhaber der Firma Motor Entertainment über ein Label und einen Radiosender, und im Berghain war er auch schon mal.

Da beherrscht ein Pharrell Williams mit seinem neuen Album nicht nur Boulevard- und Lifestyle-Medien: Auch die Feuilletons räumen Tage vor der Veröffentlichung ihre Aufschlagseiten dafür frei. Und wenn Diedrich Diederichsen, oberster Poptheoretiker des Landes, gern auch „Pop-Papst“ genannt, ein Buch veröffentlicht, das unbescheiden „Über Pop-Musik“ heißt, ist das ebenfalls nicht mehr allein etwas für Popkritik und Popdiskursfraktion, sondern wird für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Letzteres verdankt sich Diederichsens Zugang zur Popmusik. Diese ist für ihn seit ihren Anfängen vor gut 60 Jahren schon immer mehr als „nur“ Musik gewesen, mehr als bloß ein „Spezialfall aus dem größeren Gegenstandsbereich Musik“; keine mindere Kunstform, zudem zu unterscheiden von dem bloß Populären, der Populärkultur. Die Basis von Popmusik ist zwar die Musik, aber mehr noch ist sie für Diederichsen eine Art Gesamtkunstwerk, eine kulturelle oder künstlerische Form, die sich aus vielen Medien zusammensetzt, aus Bildern, Performances, Texten, Erzählungen und eben Klängen. Ihre volle Wirkkraft erhält sie aber erst durch die Teilhabe der Konsumenten, durch die Projektionen und das Begehren ihrer Hörer, der Fans: „Die Rezeption von Pop-Musik“, so Diederichsen, „geht durch ästhetische Zustände der Rezipienten, ist also mit der Erfahrung vermittelt, dass eine Form notwendig mit einem Gedanken zu tun hat. Gedacht wird oft an die Lösung einer individuellen Not.“ Und dazu geselle sich die Frage eines jeden Pop-Sozialisierten: „Was ist das denn für ein Typ? Was für ein Lebensentwurf wird uns denn da präsentiert? Wie sieht der denn aus?“

Bloß keine Komplexität reduzieren!

Allein bei Sätzen wie diesen lässt sich denken, dass es in Diederichsens Buch nur selten um Popmusik an sich geht; dass Diederichsen trotz des verführerisch aussehenden Covers mit der überdimensionierten Platten- und CD-Sammlung keine Musikgeschichte von den Anfängen des Rock ’n’ Rolls in den 50er Jahren bis zu den modernen Verzweigungen von Techno und Dubstep erzählt. Auch das Kinderfoto zu Beginn, das Diederichsen mit seinem Bruder Detlef neben einem Radio zeigt, kann in die Irre führen: „Über Pop-Musik“ ist keine handelsübliche Autobiografie.

Durchweg autobiografisch ist das Buch nur in dem Sinn, dass sich der 1957 in Hamburg geborene Diederichsen seit seiner Zeit als Popkritiker für die „Sounds“ und die „Spex“ von den späten 70er Jahren an überwiegend theoretisch mit Pop und Popmusik auseinandergesetzt hat. Popmusik ist für ihn stets primär ein zu kritisierender, kultureller Gegenstand, dem am besten beizukommen ist mit Adorno und Allen Ginsberg sowieso, aber auch mit Foucault oder einem Sergej M. Eisenstein. Erst in zweiter Linie versteht er Pop als Tonspur des Lebens, und die paar tatsächlich autobiografischen Einsprengsel des Buches haben für ihn höchstens dienende Funktion, um das große Ganze zusätzlich zu erhellen. 

So nahm Diederichsen bei seiner ihn „initiierenden Liveerfahrung“, da war er 14 und besuchte ein Konzert von Johnny Winter, vor allem die „außermusikalische Aura“ wahr: „Dass hier einer im selben Raum sich aufhält, der bisher nur die Konstanz deiner Medienerfahrung war“. Sich selbst und sein Schreiben spiegelt er lieber in den Kurzporträts von anderen, wie etwa dem des 2012 verstorbenen, sich in seinen Arbeiten viel mit der Popmusik auseinandersetzenden US-Künstlers Mike Kelley: „Er kämpfte dagegen, dass Komplexität allein deshalb reduziert wird, um sie für eine Kommunikation zuzurichten.“

Insofern ist die Lektüre dieses Buchs ein durchaus ambivalentes Vergnügen. Es ist lehrreich und es macht viel Spaß, zu verfolgen, wie Diederichsen seine Denkfiguren entwickelt. Wenn er zum Beispiel mit Hilfe von Roland Barthes und Jacques Lacan den janusköpfigen Performancecharakter der Popmusik herausarbeitet, ihr Changieren zwischen Punctum und Pose, zwischen der Authentizität der Stimme auf der einen und dem ewigen Rollenspiel der Musiker auf der anderen Seite. Aus vielerlei Richtungen versteht es Diederichsen, sich seinem Gegenstand zu nähern. Er geht den Zeichenformen der Popmusik nach, er erzählt ihre Vorgeschichte, nämlich die des Jazz, er dekliniert Bekanntes durch wie ihre Warenförmigkeit, ihren Augenblickscharakter, ihre Fähigkeit, neue soziale Räume aufzuschließen, die Ausbildung von Gegen- und Subkulturen, und durchaus musikologisch widmet er sich auch Synkopen und Breaks, Drones, Dub und Bässen.

Man hört wieder gut die Unterscheidungen von Pop 1 und Pop 2 heraus

Erkenntnisgewinne gibt es also viele, und doch ist mancher Abschnitt mitunter quälend zu lesen. Theorie ist bei Diederichsen nicht immer sexy, Verständlichkeit und ein schöner Sprachsound stehen bei ihm nicht weit oben auf der Agenda. Das widerspricht in seiner Hermetik der quasinatürlichen popmusikalischen Offenheit, dem fortwährenden Anliegen von Popmusik, „Verbindungen zwischen öffentlichem und privatem Leben, öffentlichem und privatem Hören, öffentlichem Aushandeln und privatem Ausprobieren einer Identität herzustellen“, wie Diederichsen schreibt. Das Publikum, das der Preis der Leipziger Buchmesse im Visier hat, dürfte beispielsweise einigermaßen verstört auf die akademischen Exkursionen in „Über Pop-Musik“ reagieren.

Bemerkenswerter, auch irritierender ist, dass „Über Pop-Musik“ etwas Abschließendes hat. Diederichsen verortet die Popmusik an der Grenze ihrer historischen Gültigkeit, er sieht das Ende einer historischen Ära gekommen. Diese unterteilt er in zwei Phasen: eine erste heroische, von den 60er bis zu den 80er Jahren, und eine zweite, postheroische, von den 80ern bis heute. In der ersten ging es um Gesellschaftsentwürfe, um das richtige Leben (gerade auch im falschen) mithilfe von Pop; die zweite zeichnet sich durch die „Tendenz zu Abgrenzungen um ihrer selbst willen“ aus, durch einen „Gegenkulturalismus ohne Gegenkultur“. Er spricht von „postheroischen Pathologien“: „Ausbleibende konkrete Gestalten werden durch Rekonstruktionen oder Nachbildungen von historischen ersetzt.“

Es schwingt hier insbesondere am Ende, da Diederichsen sich an ein paar Ausblicke wagt, eine gewisse Melancholie mit; ein Popkulturpessimismus, ohne dass dieser explizit benannt würde. Man hört wieder ganz gut die Unterscheidungen von „Pop 1“ (guter Pop, Subkultur, Dissidenz etc.) und „Pop 2“ (schlechter Pop, alles ist Pop) heraus, die Diederichsen schon einmal in den nuller Jahren unternommen hatte; auch das „unkomische Ende“ der Popmusik hält er wieder für möglich.

So sehr Diederichsen die Popmusik als eigene, besondere Kunstform versteht, so zuwider sind ihm die „immer kunstähnlicher werdenden Mittelschichtsmodelle“ von Popmusik, so ungern sieht er sie auf dem Weg zur „abgehobenen High-Art“. Am liebsten wäre es ihm, sie könnte sich weiterhin schön zwischen Kunst und der „Unkunst der Kulturindustrie“ positionieren, sie könnte auch die nächsten 50 Jahre ihre Relevanz unter Beweis stellen.Nur wirklich daran zu glauben scheint er nicht, da helfen auch ein Tim Renner, ein Pharrell Williams oder ein möglicher Sachbuchpreis nicht.

Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 468 Seiten, 39,99 €

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