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Kultur: Die Wüste liebt

Ein Dokumentarfilm, ein Märchen: „Die Geschichte vom weinenden Kamel“

In der Wüste Gobi steht ein Zelt, darin sitzt ein Großvater mit seiner Familie und weiß alles über Kamele. Auch, dass sie früher ein Geweih hatten. Gott belohnte sie damit für ihre große Friedfertigkeit. Bis der Hirsch kam, um es sich zu borgen, denn er wollte zu einem Fest im Westen gehen. Der Hirsch hat das Geweih nie zurückgebracht.

Der Großvater sieht aus, als ob er nichts an deres erwartet hätte. Wahrscheinlich ist er der erste Kulturkritiker unter den mongolischen Nomaden in der Wüste Gobi. Ugna, der Enkel, sitzt mit großen Augen und seiner Adidas-Mütze zu Füßen des kulturkritischen Großvaters und würde wohl lieber Fernsehen gucken. Aber noch gibt es keinen Fernseher im Nomadenzelt. Draußen warten die Kamele und halten Ausschau nach dem Hirsch mit ihrem Geweih. Es ist Frühling. Fast alle Kamel-Fohlen sind schon geboren.

Zwei Studenten von der Filmhochschule München sind in die mongolische Wüste gefahren und haben das Ideal eines Dokumentarfilms gedreht: ein Märchen. Aber was ist schon ein Märchen, wenn es nicht mindestens so wahr ist wie ein Dokumentarfilm? Poesie ist vor allem eine Frage der Faktenlage. Und der Beiläufigkeit natürlich. Und der Langsamkeit. Richtige Märchen sind immer langsam. Die Wüste ist auch langsam. Sie mag eine klimatische Katastrophe sein, aber sie ist einer der poetischsten Gegenstände überhaupt. Genau wie Kamele.

Byambasuren Davaas und Luigi Falornis Film enthält viele Filme in einem. „Die Geschichte vom weinenden Kamel“ ist ein großer Liebesfilm und außerdem ein Sozialreport aus der Mongolei nach der „Wende“. Die Mongolen sagen auch „Wende“. Und es ist unmöglich, all diese Teil-Filme wieder voneinander zu trennen, ohne sie zu zerstören. Doch zuallererst ist „Die Geschichte vom weinenden Kamel“ natürlich eine Einführung in die Kamelkunde.

Kamel ist Kamel? Niemand – und sei er Herbergsvater einer ganzen Karawanserei – wird das nach diesem Film noch glauben. Eines der größeren Versäumnisse der Filmgeschichte ist es, dass es so wenig Nahaufnahmen von Kamelen gibt. Byambasuren Davaa und Luigi Falorni entdecken die Physiognomie des Kamels als Landschaft. Am Anfang regte sich ja doch ein kleiner Zweifel: Wieso rüstet Gott das pazifistische Kamel mit einem Geweih hoch, wenn er seine Friedensliebe belohnen will? Ist doch gut, wenn der Hirsch damit in den Westen abhaut. Aber jetzt sehen wir auf den ersten Blick, dass der Wüsten-Großvater recht hat: Gott, sagt er, gab dem Kamel von der Schlange den Schwanz, vom Schwein die Ohren, von der Kuh die Augen ... Nur von wem hat es die Liebe? Hauptthema der „Geschichte vom weinenden Kamel“ ist die Liebe der Kamele.

Byambasuren Davaa kam aus der Mongolei, um in München Film zu studieren. Sie kam nicht direkt aus der Wüste, sondern schon aus der Stadt. Aber ihre Eltern sind einst aus der Wüste in die Stadt gezogen, und die Sommer verbrachte das Stadtkind noch immer bei der Großmutter im Wüstenlager. Da hat sie zum ersten Mal das Hoos-Ritual gesehen. Wenn ein Fohlen von seiner Kamel-Mutter nicht angenommen wird, muss es sterben. Es sei denn, man holt einen sehr guten Geiger. Denn nicht nur Menschen weinen, wenn sie wirklich gute Musik hören, auch Kamele. Und dann lieben Kamelmütter ihre verstoßenen Kinder wieder.

Und so überredete Byambasuren Davaa den Italiener Luigi Falorni, mit ihr in die mongolische Wüste zu fahren. Sie trafen nur wenige Nomadenfamilien im Süden der Wüste Gobi, die meisten waren wegen des besonders harten Winters in den grüneren Norden gezogen. Doch dann fanden sie die Familie Amgaa: neun Menschen, vier Generationen in drei Jurten, viele Kamele, zwanzig trächtige Kamelmütter. Neunzehn gute und eine erstgebärende Rabenmutter.

Das verstoßene Fohlen ist ganz weiß und besonders schön und hilflos, als hätte es ein Fohlen-Casting gewonnen. Aber solche Neben-Zwischen-und Hintergedanken ziemen sich nicht bei diesem Film. Die Nomaden haben auch keine Neben-Zwischen-und Hintergedanken. Und da jetzt aus der Stadt für die Kamel-Musiktherapie ein guter Geiger geholt werden muss, beginnt die vielleicht noch faszinierendere Zweitgeschichte. Ein Sozialreport wie nebenbei. Ugna, der Enkel mit der Adidasmütze, will mit in die Stadt reiten, und in seinem Gesicht steht überdeutlich der Grund: Die Stadt ist bunt, dort gibt es Coca-Cola, Fernseher und Videospiele. Dort ist – die Zukunft? Wir ahnen die Zerstörung einer Kultur. Seit der „Wende“ ist die Zahl der Nomaden in der Monogolei dramatisch gesunken.

Die Jungen wollen in die Stadt. Und sogar der fernsehfeindliche Großvater gibt dem Enkel eine leere Batterie mit auf den Weg. Sechs davon braucht er für sein Kofferradio. Aber noch kommt keiner auf die Idee, der Kamel-Rabenmutter ein wenig Kofferradio-Hitparade vorzuspielen. Kamele lassen sich nicht täuschen von der westlichen Kulturindustrie. Die Geschichte mit dem Hirsch hat ihnen gereicht. Bis heute weinen sie nur bei echter Musik. Prosaiker sagen, Tiere können gar nicht weinen. Aber wollen wir das jetzt wirklich wissen?

Broadway, FT Friedrichshain, Hackesche Höfe (OmU), Yorck

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