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Kultur: Die Utopie der Heimat ist ein Kind der Wirklichkeit

Wie der Filmemacher Edgar Reitz vom Chronist der Deutschen zum Erzähler der Weltgeschichte wurde. Eine Laudatio

„Denken Sie doch – was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein – noch dazu. Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie eine reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flößer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsass, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das alles hat am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt, und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben.“

Diese Passage aus Carl Zuckmayers Stück „Des Teufels General“ hat meine Generation, die Generation, zu der auch Edgar Reitz gehört, geadelt. Es war der Befreiungsschlag von allem rassistischen Müll, der in unsere jungen Köpfe deponiert worden war. Wir Rheinländer waren zweifelhafte Mischlinge unklarer Herkunft, trüben Geblüts – denn wir kamen aus der großen Völkermühle, aus der Kelter Europas. Dass wir darüber nicht übermütig wurden, dafür war gesorgt. Schließlich waren auch Typen wie Goebbels aus diesem Topf gekommen. Oder Robert Ley, der Rassenfanatiker. Oder der Auschwitz-Kommandant Rudolf Hoess aus Baden-Baden. Wie sollte es auch anders sein. Denn nicht jeder römische Feldhauptmann war auch ein Kavalier, nicht jeder jüdische Händler kein Schlitzohr, nicht jeder griechische Arzt kein Scharlatan, nicht jeder desertierte Kosak kein Raskolnikow, nicht jeder Offizier aus Wien kein Schlawiner.

Dieses Land, und vor allem dieses Rheinland, ist von jeher ein Durchzugsland gewesen. Oder sind Sie nie über die Autobahn gefahren und haben die Lkws gezählt, die aus ganz Europa durch dieses Land brummen? Dieses Land ist von jeher auch ein Einwanderungsland gewesen, gesetzlich oder ungesetzlich, mit Stoiber oder ohne Stoiber. Jawohl, wir sind eine „durchrasste“ Nation. Seit zweitausend Jahren. Mit jenem halben Franzosen René Schickele am Oberrhein, jenem Juden Karl Marx aus Trier, der Jüdin Anna Seghers aus Mainz, dem rheinischen Juden Heinrich Heine aus Düsseldorf, den Brentanos, dem Alfons Paquet aus Wiesbaden, dem Joseph Görres aus Koblenz, mit Stefan George aus Büdesheim und Heinrich Böll aus Köln.

Und mit Szepan und Kuzorra, den Erfindern des Schalker Kreisels. Szepan und Kuzorra aus Polen, die schon brasilianisch spielten, als der Großvater von Ronaldo noch nicht geboren war. Was wäre, nebenbei, der deutsche Fußball, ohne die Fremdkicker aus Lateinamerika und Afrika, aus Polen, Russland, Weißrussland, vom Balkan, aus der Türkei. Die Fremden sind immer wieder zu uns gekommen in dieses Land, so hässlich es sein Antlitz auch gemacht haben mag. Weshalb sonst hätten wir das alles überstanden, unsere Niederlagen und unsere Verbrechen? Die Widerstandskraft, die Kraft zum Überleben – allerdings auch, das muss gesagt sein, zum Vergessen und Verdrängen – verdanken wir nicht zuletzt auch ihnen.

Der Hunsrück ist entweder ein Durchzugsland gewesen, und das nicht nur für den Wind, der hier weht; der Hunsrück ist stets auch ein Einwanderer- oder Auswandererland gewesen. Nach den Römern kamen die Franken. Dann gesellte sich zur Sonne über dem Soonwald der Sonnenkönig. Seine Truppen machten alles kaputt, gut hundert Jahre später wurde der Hunsrück, wie das ganze linke Rheinland, französisch. Danach verfinsterte sich der Himmel wieder, und der Hunsrück wurde das Sibirien Preußens. So jedenfalls nannte die neue Herrschaft das ausgepowerte Land Und dann wundere sich einer, dass die Rheinländer, vor allem die linken, die linksseitigen, durch die Jahrhunderte stets dazu neigten, Separatisten zu sein.

Das Dorf als Mitte des Universums

Die Preußen haben dem Hunsrück nicht gut getan. Jedenfalls setzte um 1850 eine große Auswanderungswelle nach Amerika ein, und es ist eine der Geschichtsironien, dass rund hundert Jahre später die Amerikaner umgekehrt in den Hunsrück kamen, sehr wirksam, sehr nachhaltig für die ökonomische Misere des Landes. Denn das brauchte neue Wirtschaftskraft, um die Heimatvertrieben der ersten Nachkriegsjahre aufnehmen zu können. Das war in dem ehemaligen Auswandererland die erste Welle der Einwanderung, der viele andere folgten, bis zu der großen Flut um die Jahrtausendwende, als die Amerikaner gingen und die Russen kamen.

Aus diesem Schmelztiegel, aus diesem rheinischen Hochofen des Völkergemischs ist auch der Empfänger der Carl-Zuckmayer-Medaille gesintert. Der Nackenheimer „Zuck“ wär’ angesichts des Morbachers zufrieden. Aus Morbach nämlich, einer 2000-Seelen-Gemeinde, kommt Edgar Reitz. Und er sagt, er stamme aus Familien von Bauern mütterlicherseits und Handwerkern von Vaters Seite; sein Vater war, für den Sohn nicht folgenlos, Uhrmacher. Dass das stimmt, sieht man in seinen Filmen. Nirgendwo sonst, wenigstens im deutschen Kino, funktioniert das visuelle Erzählen ähnlich präzis; als ob es ein Uhrwerk aus Simmern wäre. Aber auch nirgendwo sonst greifen bäuerische Emotionalität und handwerklich-technische Rationalität so reibungslos ineinander. Das kann nur gelingen, wenn man davon überzeugt ist, aus der Mitte der Welt zu kommen. Wie die Leute von Schabbach wissen, dass ihr Dorf die Mitte der Welt ist.

Von Bauern und Handwerkern will er herkommen. Aber wieso fängt einer an, Gedichte zu schreiben? Oder Dramen, wie der Sohn des Flaschenkapselfabrikanten aus Nackenheim? Er jedenfalls, Edgar Reitz, ging wie Hermann Simon nach München, aus der „Heimat“ in die „Zweite Heimat“. Der angehende Literat wollte in München Theaterwissenschaft studieren – und er, der Uhrmachersohn, landete beim Kino. Wo man anderswo Anfang der 60er-Jahre eine Filmschule besuchte, lernte Reitz das Filmen beim Filmemachen. Sie sind kaum noch bekannt, seine rund hundert Kurz-, Industrie- und Werbefilme.

So war er, der Uhrmacher unter den jungen deutschen Cineasten, gerüstet, um mit Alexander Kluge an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, dieser Kaderschmiede des jungen deutschen Films, eine Filmklasse zu gründen, deren Studierende nicht viel jünger waren als die Lehrenden. Mit Kluge arbeitete er als Kameramann und Co-Regisseur, ehe er mit „Mahlzeiten“ in Venedig die internationale Szene betrat. Die Elisabeth dieses Films von 1967 konnte in ihrer unersättlichen Lebensgier als Verleiblichung des Landes und der Zeit verstanden werden, denen der Film entstammte. Mit „Cadillac“, zwei Jahre darauf, huldigte der Künstler-Handwerker Reitz schon einem Artverwandten, dem fabelhaften Goldschmied, wie er mit dem „Schneider von Ulm“ einem artverwandten Tüftler und Visionär Referenz erweisen wird. Oder mit der „Reise nach Wien“ seiner Mutter und allen Frauen. Oder mit der „Stunde Null“ der politischen Hoffnung, von der wir Jungen nach dem Krieg beseelt waren.

Wie sehr er sich selbst in die Zukunft des Kinos investierte, zeigte sich in den Siebzigerjahren, als er und Ula Stöckl mit den 25 „Geschichten vom Kübelkind“ und deren Präsentation in Kneipenkinos eine Art von unerschöpflichem Erzählen belebten, das in den „Heimat“-Serien zur epischen Form finden sollte. Doch der Erzähler, den Wolfram Schütte einmal als „unseren Balzac“ begrüßte, war immer auch ein Poet. Ein Poet aus dem Hunsrück. In „Heimat“ kehrt 1919 Paul Simon aus dem Krieg zurück, nach Schabbach. In der väterlichen Schmiede versammeln sich Familie und Nachbarn. Und während alle aufgeregt durcheinander reden, sitzt Paul schweigend am Tisch. Da betritt ein Toter die Szene, Pauls Freund Helmut, der in Russland gefallen ist. Helmut bringt eine Nachricht aus dem Himmel mit in die dürftige Stube, und es ist die reine Poesie. Denn auch im Himmel spricht man Hunsrücker Platt.

Zu Hause in Babylon

Es ist diese Poesie, die Hermann Simon mitnehmen wird in die „Zweite Heimat“, und sie wird eine wunderbare Freundschaft begründen. Es ist die zwischen dem angehenden Musiker aus dem Hunsrück und dem polyglotten, elfsprachigen Chilenen Juan. Der eine ist zu Hause in seiner Sprache, der andere ist nirgendwo zu Hause. Der Chilene Juan: Er steht für die Emigranten aus Deutschland, zu denen auch Carl Zuckmayer gehören musste, ebenso wie für die vielen Immigranten nach Deutschland. Auch für die deutschen Immigranten nach Deutschland, denen Politik und Geschichte des fürchterlichen 20. Jahrhunderts verwehrt hat, in dieser deutschen Sprache daheim zu sein. Sie müssen hier erst heimisch werden, die Deutsch-Proletarier, die Habenichtse der Sprache, und wir, die glücklich Besitzenden, sollten ihnen oder wenigstens ihren Kindern und Enkelkindern Teilhabe gewähren an unserem schönsten Besitz: Heimat. Von der wir nichts verlieren, wenn wir sie mit anderen teilen. Die mit der tätigen Hilfe römischer Legionäre, jüdischer Gewürzhändler, griechischer Quacksalber, von Kelten und Kosaken, von Magyaren und Panduren, von holländischen Pfeffersäcken und böhmakelnden Musikanten nur noch reicher werden kann.

Wer hier angekommen ist, ist er schon zu Hause, ist er in der Heimat? Es werden in der „Dritten Heimat“ viele Tausende sein, die in den Hunsrück kommen, aus der alten Heimat, die man auch die kalte nennt, auf der Suche nach einer neuen. Sie sind es, die im Sinne von Ernst Bloch im Spannungsverhältnis zwischen Fremde und Heimat leben und damit den Geschichtsprozess vorantreiben. Ernst Bloch aus Ludwigshafen, auch einer vom Rhein, schrieb in seinem Hauptwerk vom Prinzip Hoffnung: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Ich hoffe, dass ich mit Blochs Hilfe Edgar Reitz und sein Werk auf den Punkt bringen kann, diesen unermüdlich schaffenden, arbeitenden, gegen mannigfachen Widerstand, gegen mancherorts erschreckend viel Unverstand rackernden, kämpfenden, bittere Jahre nahezu hoffnungslos um sein Lebenswerk ringenden Erzähler. Er erzählt nicht nur von uns, sondern er erzählt uns. Er ist der Epiker Deutschlands des 20. Jahrhunderts und der Jahrtausendwende schlechthin.

Ich gestehe, dass mir bange wurde, als es hieß, Edgar Reitz wolle seine 16 Stunden umfassende Hunsrück-Chronik „Heimat“ nennen. Das war ja ein mit Blut und Boden angeschmierter Begriff, usurpiert, vergewaltigt, geschändet. Doch Reitz hat das Wort Heimat von jenem rückwärts gewandten Odium befreit, das auch Ernst Bloch antrieb zu seiner „Utopie vom Umbau der Welt in Heimat“. Heimat bei Edgar Reitz ist ein ständiger Prozess der Verwandlung. Dass er uns die Utopie von einer sich in Heimat verwandelnden Welt errettet hat und dass er dabei europäische, ja weltweit Maßstäbe gesetzt hat für das visuelle Erzählen, das ist zu würdigen und zu feiern.

Peter W. Janssen

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