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Horror von Halle. Ein Einschussloch am Döner-Imbiss, den Stephan B. attackierte.

© Jan Woitas/dpa

Die Ursachen der Wahnsinnstat: Wir züchten uns Täter wie Stephan B. selbst heran

Gegen den Horror von Halle hilft kein Entsetzensschrei. Nötig sind massive Investitionen in Einrichtungen für unsere Kinder und Jugendlichen. Ein Gastbeitrag.

Der Psychiater Joachim Bauer lebt in Berlin, wo er eine Gastprofessur innehat. Er arbeitet auch als Sachverständiger bei Gerichtsprozessen. So erstellte er ein gerichtliches Gutachten über die NSU-Terroristin Beate Zschäpe. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Wie wir werden, wer wir sind" (Blessing Verlag).

Gefühlskalte, abgestumpfte Menschen wie Stephan B., der am 9. Oktober in Halle an der Saale zwei Menschen tötete und nur durch einen glücklichen Umstand daran gehindert war, eine noch weit schlimmere Wahnsinnstat in der Synagoge zu begehen, werden nicht als Verbrecher geboren.

Ebenso wenig kommt der Mensch als sozial kompetentes Wesen zur Welt. Im Vergleich zu allen anderen Säugetieren wird der Mensch – eine Folge des massiven Wachstums seines Kopfes – extrem unreif, sozusagen „zu früh“ geboren – andernfalls könnte keine Mutter die Geburt ihres Kindes überleben.

Diesem Umstand ist geschuldet, dass der Mensch, bevor er in der Lage ist, eigene Wege zu gehen, eine soziale Prägung erfährt. Aus ihr geht das Programm hervor, dem das Verhalten des Menschen einmal folgen wird. Von besonderer Bedeutung sind dabei die emotionalen Erfahrungen in den ersten Lebensjahren, denn sie formen das Gehirn des Kindes.

Um zu einem humanen Wesen, um zu dem zu werden, was man in New York City „a real mensch“ nennen würde, bedarf es einer ganzen Reihe von Voraussetzungen, die wir unter dem Begriff der „Erziehung“ zusammenfassen.

Erziehung ist, ausweislich der Konstruktionsmerkmale des menschlichen Gehirns, kein kontrabiologisches, dem Menschen aufgepfropftes Programm, sondern eine Voraussetzung für die biologische (!) Reifung des menschlichen Gehirns.

Darüber, was die unersetzlichen Grundbestandteile von Erziehung sind, haben die modernen Neurowissenschaften eine ganze Reihe von Erkenntnissen zutage gefördert. Würden sie beachtet und umgesetzt, könnten wir die Zahl von Wahnsinnstätern wie Stephan B. gegen Null herabdrücken.

Doch danach sieht es im Moment nicht aus. Eher im Gegenteil.

Eine der zentralen Entdeckungen eines Zweigs der Neurowissenschaften, der offiziell als „soziale Neurowissenschaft“ („social neuroscience“) firmiert, war, dass menschliches Verhalten einem zentralen Trieb folgt: Was uns treibt, ist die Wunsch - ja die Gier - „gesehen“, sozial akzeptiert zu werden und zugehörig zu sein.

Im Säuglingsalter bedeutet dies, dass wir existentiell davon abhängig sind, dass sich Andere liebevoll - und überwiegend zweiseitig - in uns einfühlen und uns spiegeln. Nur wenn sie in den ersten Lebensmonaten spüren, dass sie auf dieser Welt willkommen sind, können Kleinkinder ein stabiles Selbst und gesundes Selbstbewusstsein entwickeln.

Das wiederum dient ihnen als Basis, wenn es jenseits des zweiten Lebensjahres darum geht, die Welt für sich erobern, aber auch zu lernen, dass Grenzen beachtet und soziale Regeln eingehalten werden müssen. All dies geschieht und gelingt aber nicht von allein, sondern braucht betreuende, liebevoll zugewandte, bei Bedarf auch konsequent handelnde Menschen.

Denn das Gehirn des Menschen ist ein „social brain“. Empathielose, sozial gescheiterte Psychopathen wie Stephan B. sind das Produkt eines jahrelangen Aufwachsens ohne ein hinreichendes Maß an emotionaler Fütterung, an Wahrgenommen-Werden und Akzeptanz. Ohne die Möglichkeit, sich an guten, sozial akzeptierten Herausforderungen zu bewähren und dafür Liebe, Anerkennung und Respekt zu bekommen.

Flucht in die virtuelle Gewalt

Stattdessen finden sich in den Biografien psychopathischer Männer wie des 27-jährigen Stephan B. emotionale Vernachlässigung, meistens verbunden mit Beschämungserfahrungen, nicht selten auch körperliche Gewalt.

Anstatt eines Vaters, der dem Jungen als Vorbild dient, ihm etwas abfordert und Anerkennung gewährt, finden diese Kinder und Heranwachsenden ihre Vorbilder in den virtuellen, Gewalt-getränkten Räumen des Internets, wo Männlichkeit mit Gewalttätigkeit verwechselt und Brutalität mit Rewards belohnt wird.

Dies erklärt die nur scheinbar absolute Verrücktheit, die begangenen Wahnsinnstaten zu filmen und ins Internet zu stellen, wo sie – unter dem Stichwort „Gamification“ – dann sogar auch noch bewertet werden: je brutaler und zynischer, desto besser.

Hinter der psychopathischen Tat von Stephan B. steht ein komplett fehlgeleiteter Wunsch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung und der völlig irre, weil irregeleiteten Wunsch, Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Letzteres zeigen die von Hass auf den – so wörtlich – „Feminismus“ zeugenden Selbst-Talks des Täters im Video, in dem die Tat aufzeichnet wurde.

Wir haben in den Nachwendejahren – inzwischen sind es Nachwendejahrzehnte – zugelassen und lassen nach wie vor zu, dass, vor allem im Osten, wo nach der Wende alle Jugendhilfestrukturen zusammengebrochen waren, eine ganze Generation junger Menschen in einem pädagogischen Niemandsland aufwuchs und weiter aufwächst.

Weil sie in personell unterbesetzten Betreuungseinrichtungen, in Kindergärten und katastrophal ausgestatteten Schulen keine hinreichend gute Betreuung und Erziehung erfahren und keine positiven, vor allem keine guten männlichen Vorbilder erleben, gelang und gelingt es den teils halbseidenen, teils verbrecherischen Anbietern der rechten Szene, sich hier als Ersatz-Erzieher und als Ersatz-Vorbilder aufzuspielen.

Wenn wir keine Serie weiterer Schreckenstaten junger Menschen erleben wollen, müssen wir endlich mehr für unsere Kinder und Jugendlichen tun, und das heißt: Wir müssen dringend für personell gut ausgestattete Betreuungseinrichtungen, für attraktiv ausgestattete Schulen und für die bessere Qualifizierung von Erziehern, Erzieherinnen und Lehrkräften sorgen.

Zu den fatalen, impliziten Überzeugungen in diesem Lande gehört, dass Kinder – solange man ihnen nichts in den Weg legt – irgendwie von alleine zu sozial halbwegs verträglichen Erwachsenen werden.

Eltern teilen diese Sichtweise, weil sie ihnen erspart, wegen der Zeit und Zuwendung, die sie ihren Kindern nicht geben oder nicht geben können, ein schlechtes Gewissen entwickeln zu müssen.

Nicht minder sympathisch ist diese Sichtweise den Trägern von Betreuungseinrichtungen und Schulen, weil sie rechtfertig, dass wir uns in den Betreuungseinrichten unseres Landes - insbesondere für Kinder unter drei Jahren - einen skandalös schlechten, unter den Vorgaben liegenden personellen Betreuungsschlüssel leisten. Und Schulen, die sich in einem in jeder Hinsicht beklagenswerten Zustand befinden.

Gegen den Horror von Halle helfen kein Wehklagen und kein Entsetzensschrei. Gegen das Entsetzliche, was in Halle geschah hilft nur eines: Eine massive Investition in Einrichtungen und Personal für unsere Kindern und Jugendlichen.

Selbstverständlich bleiben unsere Polizeien und Dienste weiterhin aufgefordert, die rechte Szene besser als bisher zu durchleuchten, potentiellen Tätern früh auf die Spur zu kommen und sie aus dem Verkehr zu ziehen. Doch das allein wird nicht reichen.

Joachim Bauer

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