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Kultur: Die unverheilte Wunde

Goce Smilevski imaginiert das Leben von Sigmund Freuds Schwester Adolfine als Roman.

Als vor einigen Jahren Eva Weissweilers Buch über die Familie Freud erschien, war der Aufschrei nicht nur unter linientreuen Freudianern groß. Sigmund Freud wurde in der Familienaufstellung der Biografin als tyrannischer Patriarch entmythisiert, der vor allem den Frauen in seiner Umgebung Verachtung, im besten Falle Gleichgültigkeit entgegengebracht haben soll. Weissweiler erhebt in ihrem Buch zudem erneut einen alten, bis heute ungeklärten Vorwurf: Freud sei es wichtiger gewesen bei seiner Flucht aus Wien im Jahr 1938, seine Kunstsammlung zu retten als seine vier alten Schwestern, die in der Folge in den Konzentrationslagern umgebracht wurden. Freud als kaltherziger Egomane, der wissentlich über Leichen ging? Ein Narr, der die von den Nazis ausgehende Gefahr unterschätzte? Zweifel an dieser Darstellung sind erlaubt.

Freud war gewiss kein Heiliger. Vielmehr ein zwiespältiger Charakter. Als solcher erscheint er auch in einem anregenden Roman. Goce Smilevskis „Freuds Schwester“ sucht sich eine Leerstelle in der Geschichte der Familie Freud heraus. Die Heldin ist die jüngere Schwester Esther Adolfine, die Sigmund Freud besonders schätzte, mit der ihn in der Kindheit ein enges Verhältnis verband, von der man aber nicht sehr viel mehr als die groben Lebensdaten kennt.

Smilevski lässt seine Geschichte 1938, im Jahr des Anschlusses, beginnen. Die Gefahr für die jüdische Bevölkerung ist nicht mehr zu übersehen. Wer es sich leisten kann, emigriert. Sigmund Freud selbst spielt die Bedrohung herunter, glaubt, es handele sich nur um eine Episode. Seine jüngeren Schwestern, allesamt auch schon in ihren 70ern, bitten ihn um Hilfe. Als er dann selbst nach gutem Zureden einflussreicher Freunde samt Familie und großer Entourage, zu der Leibarzt und Hund gehören, nach London zieht, seine Schwestern aber nicht auf die rettende Ausreise-Liste setzt, spitzt sich die Lage zu. Alle vier Frauen werden schließlich deportiert. Adolfine wird nach Theresienstadt verbracht, wo sie mit der Schwester eines anderen berühmten Autors zusammentrifft: mit Ottla Kafka. Und sie wird, zumindest bei Smilevski, in Treblinka in der Gaskammer ermordet. Kurz vor ihrem Tod erinnert sie sich an ihr bewegtes, bewegendes Leben.

Der dritte Roman des 1975 geborenen Mazedoniers ist von immenser sprachlicher Empathie: Er schildert die Geschichte einer emotional fragilen, lebendigen, klugen Frau, die im Wien der Jahrhundertwende an sich und den gesellschaftlichen Konventionen scheitert. Ungeliebt von der Mutter, sucht sie Halt bei ihrem älteren Bruder Siggie. Die Beziehung ist von tiefem Vertrauen geprägt. Bis zu jenem Tag, an dem die Siebenjährige den pubertierenden Sigmund beim Masturbieren ertappt – und sich in der Folge schmerzhaft von ihrem Vorbild entfremdet. Jahre später wird Freud eine Studie veröffentlichen, in der er erläutert, wie ein Mädchen durch den Anblick des männlichen Genitals zur Frau werde, Penisneid empfinde, die Bedeutung des anderen Geschlechts erkenne – und die eigene Kastration. Für Adolfine ist das Ergebnis dieser Bewusstwerdung allerdings Trauer, Furcht, Gleichgültigkeit.

Smilevski betrachtet die Freud’schen Thesen durch Adolfines Augen. Sie bewundert ihren Bruder und wehrt sich zugleich gegen ihn. „Am Anfang meines Lebens waren die Liebe und der Schmerz, und bis zum Schluss gingen sie wie ein Heilmittel und eine Wunde miteinander einher“, entschlüsselt sie ihr Lebenstrauma. Dass ihre Mutter wünscht, sie nie geboren zu haben, wird zu einer Leitmelodie. Fortwährend kämpft sie innerlich gegen diese Zurückweisung. Zurückgewiesen wird sie auch von dem einzigen Mann, den sie liebt und von dem sie ein Kind erwartet, das sie abtreiben wird.

Adolfine und ihre beste Freundin Klara, die Schwester des Malers Gustav Klimt, verbringen Jahre in der Heil- und Pflegeanstalt „Nest“. Es ist ihr Rückzugsort. Der Leiter Doktor Goethe, ein Enkel des Geheimrats, wendet gänzlich andere Methoden an als Freud. Goethe und Freud lehnen einander ab, einmal, ausgerechnet bei einer Karnevalsfeier, kommt es zu einem Disput. Doktor Goethe provoziert seinen Kollegen, indem er die Erfindung der Toilettenschüssel als größere Errungenschaft für die Menschheit lobt als alle Theorien von Kopernikus, Darwin und Freud zusammen. Scharmützel.

Smilevski gelingt es, bei allen notwendigen Simplifizierungen, die Atmosphäre jener Aufbruchsjahre spürbar zu machen. Im Mittelpunkt aber stehen Adolfine und ihr nie erfüllter Wunsch, bei sich anzugelangen. „Alle normalen Menschen sind auf dieselbe Art normal, jeder verrückte Mensch ist auf seine eigene Art verrückt“, diagnostiziert sie in Abwandlung von Tolstoi.

Smilevskis Adolfine ist als literarische Figur mit realem Hintergrund nicht unproblematisch. Denn die Freiheit, die ihm die unerzählte Geschichte von Freuds Schwester gibt, eröffnet zwar viel Raum für die Fantasie, aber auch für Spekulationen. Weil alles genauestens in einen historischen Kontext eingebunden ist, könnte man dieses fiktive Buch als Biografie missverstehen. Adolfines Gedanken und Sätze flüstert ihr aber Smilevski ein.

In einem Begleitwort zur englischen Ausgabe schreibt der Autor, dass für ihn die bekannten Fakten über Sigmund Freuds Leben wie eine Szenerie gewesen seien oder „wie die Wände eines Labyrinths, in welchem ich jahrelang herumgeirrt bin auf der Suche nach jenen Korridoren, wo die Stimme Adolfines für mich vernehmbar war, damit ich sie niederschreiben konnte. Um auf diesem Weg eines der vielen Leben, die von der Geschichte vergessen worden sind, in der Literatur zu retten.“

Das ist ein hehrer Anspruch, der sprachlich eingelöst ist: Adolfine hat wirklich eine eigene, kräftige Stimme. Ob es die Stimme jener Frau ist, die von der Geschichte vergessen wurde, wird freilich nie zu klären sein. Ulrich Rüdenauer

Goce Smilevski: Freuds Schwester.

Roman. Aus dem Mazedonischen von Benjamin Langer. Matthes & Seitz, Berlin 2013. 328 Seiten, 19,90 €.

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