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Kultur: Die stillen Zwillinge

Kinder und Krieg: „Das große Heft“.

Zwillinge. Ihre Augen haben den gleichen warmen braunen Blick, ihre Münder scheinen über dasselbe zu schweigen und zu lachen. Sind sie nicht zu auffällig im Krieg? Und in der Stadt? Der Vater (Ulrich Matthes) sagt, man solle sie trennen. Sie hören es, sie schlafen nebenan, Kopf an Kopf, so dass kein kleinster Luftspalt bleibt zwischen ihnen. Sind sie denn zwei? Nein, sie sind eins. Das Sichtbare täuscht. Trennung ist unmöglich.

Sie fahren zu ihrer Großmutter, denn nirgends sind Enkel geborgener als bei ihren Großmüttern. Aber diese ist anders. „Bevor wir zu ihr gekommen sind, wussten wir nicht, dass die Mutter unserer Mutter noch lebt. Wir nennen sie Großmutter. Sie nennt uns Hundesöhne.“

Die Zwillinge beginnen, ein Protokoll ihrer Tage zu führen, in dem nichts stehen soll als die Wahrheit. Der Vater hat ihnen ein großes Heft gegeben, in das sie alles eintragen sollen, während er im Krieg ist. Was ist, ist dies: Beschimpfungen, Schläge einer alten, fremden Frau, die zu viel trinkt. Was war, zählt nicht mehr: Mutter, Vater, Heimat, Zärtlichkeit. Was war, macht schwach. Aber diese Dreizehnjährigen sind zu jung dafür – und zu stark, um einer alten Frau (Piroska Molnár) zu unterliegen, deren Tochter sich früh von ihr abgewandt hat.

Die Ungarin Ágota Kristof, einst vor den Kommunisten in die französische Schweiz geflüchtet, schrieb Mitte der achtziger Jahre den Roman „Das große Heft“. Er machte sie berühmt. Die Verfilmung durch ihren Landsmann János Szász hat im Juli den Hauptpreis des Filmfestivals von Karlovy Vary gewonnen. Das ist nicht leicht zu verstehen.

Da ist etwas manchmal bis zum Aberwitz Ungelenkes in so vielen Szenen. Manche nennen dieses Unvermögen, wenn es nur karg genug daherkommt, Kunstfilm. Und welche Sorgfalt, fast Zärtlichkeit in der Herrichtung geradezu malerischer Verwahrlosung! Doch die Ausstellung dessen, wie weit die Unterbietung des Menschen durch den Menschen gehen kann, macht noch kein Kino. Auch wenn die Schönheit der Natur gleichsam in die Augen schneidet.

Am schwersten aber wiegt, dass die Zwillinge András und László Gyémánt diesen Film tragen sollen. Sie reden nicht viel, sie müssten also sprechende Gesichter haben. In ihnen müsste der Gegeneintrag zu ihren Tagebuch-Wahrheiten stehen. Doch ihre Augen, ihre Gesten, sogar ihr Gang spiegeln keine Gegenwelten, nicht mal ein Wirklichkeitsstolpern, nur die Anweisungen des Regisseurs.

Es ist die Geschichte einer seelischen Verhärtung bis zur Selbstauslöschung. Die Jungen benutzen ihr Seelenzwillingstum, um unbelangbar zu werden – letztlich von jederart Wirklichkeit. Der Krieg lehrt sie, was nicht in ihren Büchern steht: „Denn Gott sieht alles. Er erkennt die Gerechten. Den Schuster haben sie mit seinem eigenen Hammer erschlagen. Er war ein Gerechter.“ Janos Szász' Film – mit den Bildern von Christian Berger („Das weiße Band“) – ist der Versuch, die Wucht dieser Sätze zu erzeugen. Und geht doch ins Leere. Kerstin Decker

Capitol, Cinema Paris, Cinemaxx, FaF, Kant, Passage 1-5; OmU im fsk

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