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Glas und Wind und flüchtige Kunst. Das Vater-Sohn-Künstlergespann Wolf und Timo Kahlen betreiben seit 1985 in Berlin-Dahlem die "Ruine der Künste".

© Doris Spiekermann-Klaas

Die Ruine der Künste in Berlin-Dahlem: Bröckeln und Bauen

Die Ruine der Künste in Dahlem ist anders als andere Ausstellungsorte. Die Betreiber Wolf und Timo Kahlen mögen Experimente – mit Licht, Luft und Zeit.

Da fehlt das N. Entwendet von Buchstabenjägern oder Metalldieben? Zerfressen vom Karies der Zeit? „Ruine der Künste Berli“ steht an der Fassade. Die Augen gleiten suchend am Fundament entlang. Vielleicht liegt sie dort, die einsame Letter. Schon scharrt der Fuß in Laub und Erde. Nirgends ein N, es bleibt verschollen. Da will der Hausherr sicher zügig Ersatz schaffen. Ist ja schließlich Dahlem hier. Wolf Kahlen winkt ab. Ersetzen? Ach was. „Das N ist seit Jahrzehnten fort.“ Ihm fehlt es nicht. Weg ist weg. So ein N, das ist doch nur ein Detail im Werden und Vergehen, im Bröckeln und Bauen, das seiner Vision dieses Ortes entspricht.

Das pittoreske Haus in der Hittorfstraße endlich mal genauer zu besehen, war wirklich an der Zeit. Still fügt es sich ins Wintergrau. Wildgänse ziehen achtlos darüber hin. FU-Studenten wissen Bescheid. So viele Jahre hat der Fußweg vom U-Bahnhof Thielplatz zur Silberlaube hier vorbeigeführt. So oft stockte der Schritt. So häufig tasteten die Augen die Einschusslöcher im Mauerwerk ab. Ringsum die Villen und mittendrin dieser Ruine gewordene Stachel im Fleisch gepflegter Bürgerlichkeit. Nur, was in aller Welt hatte der zu bedeuten?

Wolf Kahlen (r) entdeckte den zerbombten Bau 1981, sein Sohn Timo unterstützt ihn bei der Erhaltung und Bespielung der Villa.
Wolf Kahlen (r) entdeckte den zerbombten Bau 1981, sein Sohn Timo unterstützt ihn bei der Erhaltung und Bespielung der Villa.

© Doris Spiekermann-Klaas

Erst mal, dass Schwellenangst stärker als Neugier ist. Sonst hätte der Weg längst hineingeführt. Kein exklusives Phänomen, wie die privaten Betreiber Wolf und Timo Kahlen bestätigen, die genau die Geschichte schon zigmal von Besuchern gehört haben. Und das, obwohl die 1985 eröffnete „Ruine der Künste“ inzwischen rund 150 Ausstellungen und unzählige Veranstaltungen ausgerichtet hat.

Im Dezember endete die dreimonatige Ausstellung „Handschreiben“, die die individuelle Schrift als Mutter aller Künste von der Architektur über die Malerei bis zur Literatur feiert. Die Bilder, Installationen und Skulpturen von Künstlern wie Marcel Duchamp, Meret Oppenheim und Heinz Trökes sind immer noch über zwei Etagen verteilt. Auch Arbeiten der Hausherren sind darunter. Gekommen sind 450 Besucher, sagt Timo Kahlen. „Zehn am Tag, das ist erstaunlich, jede Galerie hat weniger.“ Auch Kunstfans, die nach dem Mauerfall verstärkt im Ostteil der Stadt unterwegs waren und die im plötzlich jottwede gelegenen Dahlem liegende Ruine vergaßen, kämen wieder.

Außen pfui, innen hui: Die alte Villa hat ein helles, heiles Innenleben

Wolf und Timo Kahlen, das sind Vater und Sohn. Ersterer ist Jahrgang 1940 und als Medienkünstler ein notorischer Macher und Pionier, der in den Sechzigern und Siebzigern der Fluxus-Bewegung nahe stand. In Bernau betreibt er einen weiteren privaten Kunstort, das Wolf- Kahlen-Museum. Geld für diese enthusiastischen Unternehmungen hat er viele Jahre als Professor im Fachbereich Architektur an der TU Berlin verdient. Timo Kahlen, Jahrgang 1966, ist ein Medien- und Klangbildhauer, der im Brotberuf Kunst am Gymnasium lehrt. In der Ruine der Künste haben sie die Aufgaben folgendermaßen verteilt: Der Vater ist gleichzeitig Direktor und Putzfrau, der Sohn Mädchen für alles. Beide betonen den Status der Ruine als architektonische Skulptur. „Die zweitgrößte Skulptur, die ich je gebaut habe“, sagt Wolf Kahlen.

Innen überrascht das alte Haus in der Dahlemer Hittorfstraße mit lichter Weite.
Innen überrascht das alte Haus in der Dahlemer Hittorfstraße mit lichter Weite.

© Doris Spiekermann-Klaas

Das Draußen und Drinnen, die ruinöse Hülle und das helle, heile Innenleben sind sowohl Kontrast als auch Einheit. Und wenn Bäumchen aus den Mauerritzen wachsen, Timo Kahlens Klanginstallationen aus Minilautsprechern in den Einschusslöchern wispern und Gastkünstler mit Fundstücken aus dem Garten arbeiten, dann durchdringen sich die Ebenen. Auch wenn der Blick vom Ausstellungsraum durch eine Glasscheibe nach draußen auf die zugewucherte Terrasse fällt, auf der im Geröll ein Bildschirm mit einer Videoarbeit flimmert. Laut Wolf Kahlen ist das keine Terrasse, sondern ein Naturschutzgebiet.

Das verwilderte Grundstück mit Bombenruine entdeckte Vater Kahlen 1981

Dieses Haus ist für viele Überraschungen gut. Gleich am Eingang fällt der Blick auf Metallpfosten, die im Erdgeschoss die Decke zu stützen scheinen. Eine Annahme, die sich postwendend als eklatanter Fall von Kunstbanausentum entpuppt. „Das sind keine Stützen, das ist Poesie“, spricht Vater Kahlen und deutet nach oben. Ach, da sind ja zwischen Metall und Stein filigrane Vogelnester eingeklemmt. Die Installation stammt vom Sohn und gehört zu einer „Arbeiten mit Wind“ betitelten Serie, die 1991 zur Einweihung der Kunst-Werke in Mitte entstand.

Das einst von wohlhabenden Geschäftsleuten bewohnte, verwilderte Grundstück mit der nur aus Wänden und einem Restdach bestehenden Bombenruine hat der sowieso in Dahlem ansässige Vater zufällig beim Spazierengehen entdeckt. Kahlen ist eine bekannte Figur der Berliner Kunstszene. Der Bezirk stimmt 1981 seiner aus hippieeskem Geist entstandenen Idee sofort zu, hier einen privaten Ort „für materielle und immaterielle Künste“ einzurichten, wie es das Schild am Gartentor noch immer verkündet. Vorausgesetzt, dass er die Verantwortung ebenso wie die Finanzierung trägt.

Eine Heimstatt für Vergängliches: Experimentiert wird mit flüchtigen Stoffenen

Glas und Wind und flüchtige Kunst. Das Vater-Sohn-Künstlergespann Wolf und Timo Kahlen betreiben seit 1985 in Berlin-Dahlem die "Ruine der Künste".
Glas und Wind und flüchtige Kunst. Das Vater-Sohn-Künstlergespann Wolf und Timo Kahlen betreiben seit 1985 in Berlin-Dahlem die "Ruine der Künste".

© Doris Spiekermann-Klaas

Vier Jahre lang trotzt Kahlen allen Bedenken. Er karrt allein den Schutt raus, setzt Fenster ein, zieht einen Fußboden und eine Zwischendecke, mauert Wände, erneuert Fenster, Dach, Leitungen und richtet im Souterrain sogar eine Gästewohnung für Künstler ein. „Der kann alles“, sagt der Sohn. Vom Eröffnungstag im Oktober 1985 an hilft dann auch der frisch gebackene Abiturient Timo mit. Sein Einstand ist die fotografische Dokumentation einer Performance von Geoffrey Hendricks, die der Amerikaner in und für die Ruine der Künste aufführt. Namhafte Künstler aus aller Welt zu treffen, die seine Vorschläge und Ideen ernst nehmen, das gefällt ihm. „Es war eine wunderbare Möglichkeit für mich, in die zeitgenössische Kunst hineinzuwachsen.“ Inzwischen wurden Timo Kahlens eigene Arbeiten in weit über hundert Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt.

In den Siebzigern war Konzeptkunst die Ausnahme, heute ist die Kombi Kunst und Ruine fast schon normal

Es scheint paradox, doch gerade weil sich seine Werke ebenso wie die des Vaters mit flüchtigen, ephemeren Stoffen wie Wind, Klang, Licht, Bewegung, Zeit befassen, ist ein Haus wichtig für ihn. „Dinge zeigen, die man nicht zeigen kann, kann man nur, indem man ihnen einen Rahmen gibt.“ Einen Rahmen, der seinerzeit etwas völlig Neues war. Kunst in Berlin, das sei in den Siebzigern die expressive Malerei gewesen, erinnert sich Wolf Kahlen. „Also die Jungen Wilden, die in Kreuzberg saßen.“ Kaum jemand arbeitete konzeptuell – und niemand sonst lud die Menschen in eine malerische Ruine ein, die auch noch in Dahlem stand. Inzwischen ist die Kombi Kunst und morsche Gemäuer oder alte Fabriken fast schon ein alter Hut. Die Avantgardisten von einst sehen das gelassen. „Unser Konzept hat sich durchgesetzt.“

Draußen im Garten der Ruine der Künste finden sich auch Videoinstallationen.
Draußen im Garten der Ruine der Künste finden sich auch Videoinstallationen.

© Doris Spiekermann-Klaasl

Und in einem wichtigen Aspekt unterscheidet sich die Ruine, die unzähligen Künstlern nicht nur ein Forum für ihre Arbeiten geboten, sondern auch eine Herberge gewährt hat: Sie ist weder elitär noch kommerziell. Die häufig mit dem Ort arbeitenden Installationen sind sowieso unverkäuflich. Ihr Low-Budget-Jahresbudget von 20 000 Euro bringen die Kahlens auf. Eintritt verlangen sie nicht. Und der Kunsthistoriker, der derzeit in der Kellerwohnung seinen Forschungen nachgeht, gilt die „Miete“ in Ausstellungstexten ab. Vor allem aber lehnen Wolf und Timo Kahlen den Eventcharakter von Kunstvermarktung an besonderen Orten oder im privaten Rahmen ab. „Wir machen kein Spektakel“, sagt Timo Kahlen, „wir sind ein Treffpunkt, wo man sich in Ruhe begegnen kann und gucken, was an wunderbaren Ideen in der Welt existiert.“

"Wir verstehen uns als Urständler", sagt Wolf Kahlen

Das klingt fast, als würden die beiden sich als Widerständler sehen. Wolf Kahlen schüttelt den Kopf. „Wir verstehen uns als Urständler.“ Als Künstler, die sich den Urempfindungen des Lebens widmen – sei es mit Naturmaterialien oder per Internet-Art. Das Haus, dieser raue, fremdartige Körper, dient ihnen dabei als Experimentierfeld, das sie genau so erhalten wollen – ein Gegenstück zum Geglätteten, in dem immer wieder Neues entsteht. Die Ruine wird ewig so bleiben, wie sie jetzt ist, sagt der Vater. Und sich dabei verändern, sagt der Sohn. Der Vater nickt. „Und das, was sich verändert, ist das, was bleibt.“

Ruine der Künste, Hittorfstraße 5 in Dahlem. Infos: www.wolf-kahlen.net/2016. Die Ausstellung „Handschreiben“ ist noch bis Ende März nach Vereinbarung zu sehen, dann folgt die nächste. Mailkontakt über: ruine-kuenste.berlin@snafu.de

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