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Gelbwesten protestieren vor der antiken römischen Arena in Nîmes.

© AFP

Die Proteste der Gelbwesten: Ein Bericht aus Nîmes: Tränengas vor der Arena

Die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich wächst weiter – auch im beschaulichen Nîmes. Ein Bericht von der Front.

Das Maison Carrée ist der am besten erhaltene Tempel der gesamten römischen Welt. 26 Meter lang, 15 Meter breit und 17 Meter hoch, steht er mit weißen schlanken Säulen am Rand der Altstadt von Nîmes, die auf der anderen Seite von der Arena begrenzt wird, dem südfranzösischen Colosseum mit seiner langen Stierkampftradition.

Beide antiken Bauwerke spiegeln sich in zeitgenössischer Architektur: Vis-à-vis der Arena, die 24 000 Besucher fasst, ist im vergangenen Sommer das Musée de la Romanité eröffnet worden, wieder ein Beispiel mutig-eleganter französischer Baukunst. Die Architektin Elizabeth de Portzamparc hat eine matt spiegelnde Fassade aus fließenden Glaspaneelen geschaffen, ihre feine Struktur erinnert an römische Mosaike. Das Maison Carrée wiederum korrespondiert mit einem Bau von Norman Foster, dem gläsernen Carré d’Art aus dem Jahr 1993 mit Mediathek und Galerie. Die aktuelle Ausstellung zeigt Picasso, den politischen Künstler.

Am Samstag hatten die „gilets jaunes“, die Gelbwesten, hier einen großen Auftritt. Sie posierten auf den Stufen des Augustustempels, schwenkten die Tricolore, und man hörte die Marseillaise. Auf ihren Transparenten fordern sie das „Ende der V. Republik“ und die Abdankung von Präsident Emmanuel Macron. In dem antiken Ambiente wird es noch einmal klarer: Sie sehen in Macron eine arrogante Imperatorengestalt. Auch das römische Volk war einst nicht machtlos. Es stürzte Götter, und es rief neue aus.

Jetzt standen sich in Frankreich über 80 000 Gelbwesten und fast ebenso viele Polizisten und Polizistinnen gegenüber. Die Mobilisierung der Demonstranten nimmt zu, nicht ab. Es war der neunte gelbe Samstag, der neunte „Akt“ – so nennen es die Westen – eines schwer zu durchschauenden Spektakels der Frustration, der Selbstermächtigung, der verständlichen Prosteste gegen steuerliche Ungerechtigkeit, soziale Unterschiede, strenge Hierarchien, gegen Umweltzerstörung. Sie attackieren das System als solches. Man hört auch von üblen Angriffen auf Journalisten, ein Pöbel rechnet sie dem Staat zu. Hass auf die „Medien“ vereint extreme Rechte und Linke.

Was Macron auch tut oder lässt, es ist nicht das Richtige, es provoziert

8000 Protestierende in Paris, 6000 in Bourges, ähnliche Zahlen werden aus Bordeaux und Toulouse gemeldet. In Nîmes sind um die tausend „gilet jaunes“ zusammengekommen, die Demo ist nicht genehmigt. Das genügt, um die gepflegte Stadt mit 150 000 Einwohnern in Aufruhr zu versetzen. Und auch wieder nicht: In den offen gebliebenen Cafés der Altstadt sitzen ältere Bürger friedlich in ihren gelben Westen und ruhen aus.

Nachmittags haben sich ein paar hundert Gelbwesten mit ihren Motorrädern auf dem Boulevard versammelt. Der Verkehr kommt zum Erliegen. So hat es vor ein paar Wochen begonnen: mit einem Protest gegen die Spritpreise. Seither wächst die Geschichte. Die „gilets jaunes“ werden mehr, je mehr Macron auf sie einzugehen scheint. Was er auch tut oder lässt, es ist nicht das Richtige, es provoziert. Die „fracture sociale“, diese Spaltung, ist mindestens seit den Tagen von Präsident Jacques Chirac ein brennendes Thema. Er hat sie nicht abbauen können – und schon gar nicht Sarkozy oder Hollande.

Macron, selbst Anführer einer Bewegung („En marche“), hat die Franzosen aufgerufen, sich an der von der Regierung ausgerufenen nationalen Debatte über gesellschaftliche Reformen zu beteiligen. Das genügt vielen Gelben nicht. Sie berauschen sich an ihrem Erfolg, am Echo, das in den verhassten Medien hallt.

Wer sind sie, woher kommen sie? In Nîmes bietet sich ein gemischtes Bild. Viele Studenten haben die Weste übergezogen, aber auch Familienvatertypen sind darunter, Arbeiter und alte Linke und Anarchisten, die so aussehen, als seien sie schon 1968 dabei gewesen. Am Wochenende zuvor haben 150 Frauen den Bahnhof von Nîmes besetzt. Es fällt auf, bei aller Vorsicht, die man als zufälliger Beobachter walten lässt: Die gelben Westen wirken wie eine überwiegend weiße Bewegung. Es sind nicht die zornigen jungen Leute der Banlieue mit arabischem oder afrikanischem Familienhintergrund, noch nicht.

Die Szenerie erinnert an den 1. Mai in Kreuzberg

Gelbwesten protestieren vor der antiken römischen Arena in Nîmes.
Gelbwesten protestieren vor der antiken römischen Arena in Nîmes.

© AFP

Nîmes und die Gelben: Ein Gastwirt, der seine Brasserie für den Tag schließt, warnt die Gäste vor dem Schwarzen Block. Sein Kollege in einem anderen Restaurant fand die Bewegung anfangs gut, jetzt sei es aber zu viel. Der Besitzer eines Ladens mit kostbaren Stierkampf-Devotionalien denkt nicht daran, abzusperren, und unser Hotelier hat von bevorstehenden Unruhen nichts gehört.

Das ändert sich, als im Lauf des Samstagnachmittags die Altstadt zum Aufmarschgebiet wird. Eine Weile liefern sich die „gilet jaunes“ und die Schwarzuniformierten der CRS, der Compagnies Républicaines de Sécurité, um die Arena herum Scharmützel. Steine fliegen, Mülleimer brennen, die Szenerie erinnert an 1.Mai-Feierlichkeiten in Kreuzberg. Nur kommen hier keine Einsatzfahrzeuge durch, die Gassen sind zu eng.

Das Musée de la Romanité – einer der schönsten Orte, um antikes Leben zu studieren, eine Weltklassepräsentation – schließt in dem Tumult, auch die Arena wird zugesperrt. Auf dem Platz davor steht eine Skulptur des berühmten Matadors Christian Montcouquiol, genannt „Nimeño II“. Er hält sein metallenes Tuch in den Wind, ein stummes Olé.

Die Polizisten treiben die Demonstranten in die Altstadt, vielleicht auch wollen die flashmobartig aufblitzenden gelben Westen die Beamten in das unübersichtliche Geflecht von Gassen, Plätzen, Durchgängen hineinlocken. Es gibt einige leicht Verletzte und ein paar Festnahmen, Kaum materielle Schäden. Offensichtlich richtet sich der Protest nicht gegen die lokalen Geschäftsleute.

Die gelve Weste ist auch eine Tarnung für Demokratiefeinde

Ein internationales Flamenco-Festival eröffnet an dem Wochenende in Nîmes. Die Vernissage am frühen Abend fällt aus Sicherheitsgründen aus, die Premiere später findet statt. Wir gehen durch die Gassen zum Essen, die zwei, drei Stunden zuvor in beißenden Nebel gehüllt waren und von den Stiefeltritten der CRS widerhallten. Das Restaurant trägt den Namen „L’imprevu“, das Unvorhergesehene, Unerwartete.

Später herrscht in den Bars wieder voller Betrieb. Es ist kalt, aber viele Gäste sitzen auf dem Boulevard Victor Hugo, der von der Maison Carrée zur Arena führt. Die Schaufenster der Banken sind kaputt, eingeworfen und besprüht: „Le capital c’est du caca“ und „Voleurs!“, Diebe.

Die Sicherheitsweste mit der Signalfarbe kann sich jeder überziehen, gleich welcher Couleur, sie ist auch eine Tarnung für Demokratiefeinde. Wird der „zehnte Akt“ am nächsten Samstag noch mehr Menschen auf die Straßen bringen, ist es schon eine kleine Revolution?

Die Beamten feuern Kartuschen in die Gassen. Leicht gerät man zwischen die Fronten. Vite, vite, sagt eine Polizistin. Wir nehmen die hundert Meter zum Eingang unseres Hotels im Laufschritt. Das Gas ätzt im Hals, Tränen schießen ins Gesicht. Vite, vite! So schnell werden sich die Gelbwesten nicht verziehen. Auch nicht die globalen Probleme, die sie mit Gewalt in Angriff nehmen, weil die Politik in ihren Augen versagt.

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