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 Chefdirigent Kirill Petrenko gibt seinen Einstand bei den Waldbühnen-Open-Airs der Berliner Philharmoniker.

© dpa/Fabian Sommer

Die Philharmoniker in der Waldbühne: Auch Petrenko spielt die „Berliner Luft“

Es ist sein Debüt: Erstmals dirigiert Chefdirigent Kirill Petrenko in der Waldbühne. Und trotz Regen herrscht gute Laune beim Konzert der Berliner Philharmoniker.

„Same procedure…“, hatte Simon Rattle 2018 bei seinem ultimativen Abschiedskonzert als Philharmoniker-Chef in der Waldbühne vom Podium gerufen, und das Publikum hatte mit „…every year“ geantwortet. Traditionen wollen gewahrt sein, deshalb dirigiert auch sein Nachfolger Kirill Petrenko bei seinem Waldbühnen-Debüt am Ende der Welcome-Back-Woche der Philharmoniker die „Berliner Luft“. Und das Publikum pfeift und schwenkt seine Handys dazu, was sonst.

Aber, ebenfalls klar, Petrenko ist nicht Rattle. Entertainer-Qualitäten entfaltet er am Pult zwar zuhauf (auch mit der verschmitzt überdehnten Vollbremsung in der ersten Zugabe, Brahms‘ Ungarischem Tanz Nr. 5). Aber die Ansprache ans Publikum ist nicht seine Sache: Kein Wort an die tapfere Besucherschar, die unter Schirmen und Kapuzen dem widrigen Wetter trotzt. Knapp 6000 sind gekommen, nicht alle der 10.000 Tickets wurden verkauft.

Auch wenn das Publikum bei der eingangs vom Orchester animierten La-Ola-Welle (Traditionen...) noch etwas zögerlich reagiert. Und das, obwohl sich auf dem Parkplatz die Unions- und die Philharmoniker-Fans munter mischten und unisono in ihre Regenhosen kletterten, bevor sie wahlweise dem Olympiastadion oder der Waldbühne zustrebten.

Das bisschen Regen. Wenn Stefan Dohrs Horn beide Werke des 70-minütigen Abends anstimmt und Petrenko gleich bei Webers „Oberon“-Ouvertüre ein zartes Waldweben ins Waldbühnenrund zaubert, wähnt man sich im Nu in einem Sommernachtstraum mit milden Temperaturen und linden Lüften. Und nicht unter einem gräulichen Himmel, aus dem es zu Beginn von Schuberts Großer C-Dur-Symphonie dann doch etwas heftiger schüttet.

Wobei der Nachteil eines Kapuzen-bewehrten Konzertbesuchs weniger im akustischen Handicap besteht als im eingeschränkten Blickfeld. Das Schöne an einem Waldbühnen-Konzert besteht ja nicht zuletzt in der Rundum-Wahrnehmung einer Gemeinschaft der Vielen, mit den Musikern am Grund der Talmulde, unter ihrem doppelzipfeligen Zeltdach. Ein Gemeinschaftserlebnis, das nach bald eineinhalb Jahren Pandemie kostbarer ist denn je.

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Wobei das bunte Meer von Schirmen, Pelerinen, Capes und Outdoor-Jacken einem trotzdem vertraute Gefühle beschert, samt der Freiluft-Profis mit wasserfesten Sitzkissen und Partnerschirm. Auch verregnete Philharmoniker-Open-Airs haben schließlich Tradition, seit vielen Jahren.

Unbeständig und kühl. Die Besucher des Philharmoniker-Konzerts mit Petrenko ließen sich die Laune nicht verderben.
Unbeständig und kühl. Die Besucher des Philharmoniker-Konzerts mit Petrenko ließen sich die Laune nicht verderben.

© dpa/Fabian Sommer

Und Petrenko macht es ohnehin wett. Auch wenn luftfeuchtigkeitsbedingt die Intonation spätestens im Schubert-Scherzo auseinanderdriftet und sich wegen des vergröbernden Lautsprecher-Sounds jeder Vergleich mit der Akustik im Scharoun-Bau erübrigt, gelingt es den Philharmonikern doch, unter seiner Leitung, den Wald gleichsam zum Tönen zu bringen, von den hypnotisch-beschwörenden Horn-Rufen über Seufzer-Intervalle und Echoeffekte bis zu den flehentlichen Cello-Gesängen im Andante con moto. Petrenko geht in die Hocke, dimmt die Dynamik bis zum entrückten Pianissimo hinunter und lässt die Streicher im Kopfsatz um so gnadenloser mit ihrer barschen Abwärts-Terz Einhalt gebieten.

Petrenkos Feinsinn kommt auch in der Waldbühne an

Scharfe Kontraste, ein Tuttiklang ohne jeden Nachdruck, zittrig-bebende Tremoloschichtungen, sanfte Streicherwellen auf Pizzicatogrund, organische, kraftvolle Motorik mit galoppierenden Punktierten: Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, ob jede Nuance mühelos zu hören ist. Vielleicht ist Musik ja per se konjunktivisch, die Feier des Möglichen angesichts der beschränkten Realität.

Petrenkos Feinsinn sorgt jedenfalls für Konzentration und Ruhe in der Waldbühne – selbst das Getrommeln der Tropen auf dem Schirm weicht im Finalsatz einem feineren Nieselregen. Besänftigung, auch das können wir gut gebrauchen in diesen Zeiten. Bis die „Berliner Luft“ zum Kehraus den fröstelnden Gemütern wieder einheizt. Wäre ja gelacht, wenn man nicht auch diesmal mit einem Ohrwurm auf den Heimweg geschickt würde.

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