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Der Auftritt von Nina Simone gehört zu den radikalsten Momenten des Harlem Cultural Festivals. 

© Disney

Die Musikdokumentation "Summer of Soul": Die Kraft einer wilden Rose im Zement

Der Musik-Dokumentarfilm „Summer of Soul“ erinnert an die politische Bedeutung des Harlem Cultural Festivals 1969. Ein wichtiger Moment für das schwarze Amerika.

Von Andreas Busche

Der 20. Juli 1969 ist ein historisches Datum. Für einen kurzen Moment war (das weiße) Amerika der festen Überzeugung, es könne die Welt zu einem besseren Ort machen. „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Sprung für die Menschheit“, sagte Neil Armstrong, als er den Mond betrat.

Im Mount Morris Park im New Yorker Stadtteil Harlem war die Welt an diesem Sonntag dagegen ein ganzes Stück kleiner. Das Harlem Cultural Festival, rückblickend oft als „schwarzes Woodstock“ verklärt, ging in sein viertes Wochenende, auf der Bühne stand unter anderem der 19-jährige Stevie Wonder und legte ein furioses Drumsolo hin.

Der Mond erschien weiter entfernt denn je, der Schmerz der afroamerikanischen Bevölkerung – ein Jahr zuvor war Martin Luther King durch die Hand eines Rassisten gestorben – für einen Augenblick gelindert. „Die Schwarzen wollen zurück nach Afrika, die Weißen fliegen zum Mond. Ich werde schön in Harlem bleiben und mit den Puertoricanern feiern“, sagt ein Festivalgast rauchend in die Kamera.

1970 schrieb Gil Scott-Heron seine Protesthymne „Whitey On the Moon“ über ein Land, das Geld in die Eroberung des Weltraums steckt, während in den schwarzen Armenvierteln Kinder verhungern. Der Untertitel des Dokumentarfilms „Summer of Soul“ über das Harlem Cultural Festival zitiert einen anderen Klassiker von Scott-Heron: „Or, When the Revolution Could Not Be Televised“.

Schwarze Kultur wird in den USA oft vergessen

Regisseur Ahmir „Questlove“ Thompson, besser bekannt als Drummer der Hip-Hop-Band The Roots, birgt mit diesen insgesamt vierzig Stunden Filmmaterial einen wichtigen Moment in der Geschichte des schwarzen Amerikas – und ein noch heute phänomenales kulturelles Ereignis – aus den Archiven. Fünfzig Jahre später erinnern sich Menschen wie Barbara Bland-Acosta und Ethel Beatty-Barnes, die damals als Teenager dabei waren, daran, was sie beim Anblick des Publikums dachten: „Noch nie hatten wir so viele von uns an einem Ort versammelt gesehen.“

Dass diese Aufnahmen so lange als verschollen galten, sagt einiges über die selektive amerikanische Geschichtsschreibung, die viele für die schwarze Bevölkerung zentrale Ereignisse – und traumatische wie das „Tulsa Massaker“ von 1921 – aus dem Gedächtnis gestrichen hat. Die Ursprünge des Harlem Cultural Festival haben auch nichts mit Woodstock zu tun, das erst einen Monat später stattfand.

Die Soulsängerin Gladys Knight lässt sich von ihrer rein männlichen Backingband The Pips begleiten.
Die Soulsängerin Gladys Knight lässt sich von ihrer rein männlichen Backingband The Pips begleiten.

© Disney

Es war vielmehr eine Reaktion auf die vielen Toten in den USA, von den Kennedy-Brüdern über Malcolm X und Martin Luther King bis zu den disproportional vielen Afroamerikanern, die in Vietnam starben; 1969 überschwemmte zudem Heroin die  Nachbarschaften in Harlem. Das Land glich einem Pulverfass, erinnert sich der heute 66-jährige Al Sharpton in einem der zahlreichen Zeitzeugen-Interviews.

Die Aufnahmen holen das Konzert in die Erinnerung zurück

Der Sänger Tony Lawrence, eine lokale Größe in der Kulturszene von Harlem, wollte mit Unterstützung des New Yorker Bürgermeisters John Lindsay, einem Republikaner, ein Zeichen gegen die Gewalt setzen. Er gewann dafür einige der besten und einflussreichsten schwarzen Künstlerinnen und Künstler der späten sechziger Jahre. „Es war eine verrückte verrücke Zeit“, sagt Bland-Acosta, „wir brauchten etwas, das uns berührt. Wir brauchten diese Musik.“

Und Musik bekamen sie. Die Aufnahmen, die Thompson in die kollektive Erinnerung zurückholt, haben fünfzig Jahre später nichts von ihrer Wucht verloren. Musiker wie Stevie Wonder und Sly Stone, der als einziger Teilnehmer kurz darauf auch in Woodstock dabei war, befanden sich an Wendepunkten in ihren Karrieren; die „Soul Power“, wie Wonder einmal sagt, sollte gesellschaftlich mobilisieren.

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1969 wurde Stevie Wonder vom Motown-Kinderstar zum politischen Aktivisten, er veröffentlichte in fünf Jahren fünf Klassiker, die nicht nur den Soul veränderten. Sly Stone hatte zu dem Zeitpunkt Soul und Funk bereits hinter sich gelassen und seine Band in eine vom Blues und Funk infizierte Psychedelic-Rock-Groovemaschine verwandelt.

Der Drummer war weiß, die Trompete spielte eine Afroamerikanerin, der Bandleader sah aus wie ein Hippie: Der Auftritt von Sly & the Family Stone ist mit nichts zu vergleichen, was damals in der schwarzen Popmusik marktüblich war. Einen gamechanger nennt der Kulturtheoretiker Greg Tate im Interview Sly Stone: transformativ, hip, politisch radikal und dazu ein brillanter Musiker. „Neo-Super-Blackness.“

We are a Beautiful People

Anders als der nicht minder großartige „Wattstax“ von 1972, ein Showcase für das Memphis-Label Stax und 1974 immerhin für den Golden Globe nominiert, ist „Summer of Soul“ kein reiner Konzertfilm. Thompson schneidet zwischen die Auftritte immer wieder historisches Material, das den kulturellen Kontext für das Festival bereit stellt.

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Denn 1969, erinnert sich Al Sharpton, war auch das Jahr, in dem das Wort black im allgemeinen Sprachgebrauch das Wort negro endgültig ablöste. Charlayne Hunter-Gault erzählt in „Summer of Soul“, wie sie mit dem Einverständnis ihres „New York Times“-Redakteurs die Sprachregelung in der Zeitung einführte. „We Are a New People“, ruft Jesse Jackson 1969 von der Bühne. „We are a Beautiful People. I am Black!“

Doch dann besteht die Besonderheit von „Summer of Soul“ gerade darin, wie diese Emanzipationsbewegung unmittelbar in der Musik ihren Ausdruck fand: im afrokubanischem Jazz von Mongo Santamaria etwa oder beim südafrikanischen Trompeter Hugh Masekela, der damals schon eine Weile in den USA lebte.

Kampfansage ans Publikum

Der neue Afrozentrismus, der in diesen Jahren von Harlem ausging, war auf der Bühne und im Publikum zu erkennen, afrikanische Stoffe und Afrofrisuren wurden plötzlich mit Stolz getragen. „Wie eine Rose, die durch den Zement bricht“, heißt es einmal in „Summer of Soul“.

Die Beschreibung bezieht sich im Film auf das denkwürdige Konzert von Nina Simone, die ihren Hit „Are you ready?“ als eine mantrahafte Kampfansage direkt ans Publikum richtet: „Seid ihr bereit, Gebäude niederzubrennen?“ Der Auftritt Simones gehört zu den radikalsten Momenten in „Summer of Soul“: Zu sehen, wie sie in „Backlash Blues“ ihr Piano malträtiert, lässt erahnen, dass Frauen – young, gifted and black – in Amerika besonders schwere Hürden zu überwinden hatten.

Der andere herausragende Moment ist das Duett der Gospel-Legenden Mahalia Jackson und Mavis Staples. Die 30 Jahre jüngere Staples steht erst allein vor dem Publikum, ehrfürchtig und schüchtern, bevor Jackson übernimmt und sich in eine religiöse Trance singt – bevor sie zum großen Finale Staples, nun hörbar selbstbewusster, wieder auf die Bühne ruft. Sharpton erinnert an die Bedeutung der spirituellen Musik, eine „Therapie für den Stress und den Druck, als Schwarze in Amerika zu leben“. Der Film „Summer of Soul“ ist ein Zeugnis von Ekstase und Heilung. (Auf Disney +)

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