zum Hauptinhalt
Scharfkantiges Revue-Personal vor dem eisernen Vorhang – und mittenmang die Geschwister Pfister.

© robert-recker.de

Die Musik der wilden Zwanziger: Tango auf der Avus

Revue für Spoliansky: „Heute Nacht oder nie“ mit den Geschwistern Pfister an der Komischen Oper.

Marlene Dietrich wurde 1929 in einer Revue von Mischa Spoliansky entdeckt. „Zwei Krawatten“ hieß das Stück, der Star der Produktion war eigentlich Hans Albers, doch Josef von Sternberg wusste sofort, als er die Darstellerin der amerikanischen Millionärstochter Mabel sah: Das ist mein „Blauer Engel“!

1931 war aus der Berliner Göre Marlene dann schon die Dietrich geworden – und als sie, frisch zurück aus Hollywood, im Theater am Kurfürstendamm zur Premiere des neuesten, von Gustaf Gründgens inszenierten Spoliansky-Stücks „Alles Schwindel“ auftauchte, stand die Yellowpress vor Begeisterung Kopf.

Man muss diese zwei Anekdoten erzählen, um klarzumachen, was für eine große Nummer dieser 1898 im russischen Bialystok geborene Komponist damals in der Reichshauptstadt war. Kurt Tucholsky und Friedrich Hollaender zählten zu seinen Kumpels, in Max Reinhardts „Schall und Rauch“-Kabarett war er Musikchef, arbeitete aber auch für Trude Hesterbergs „Wilde Bühne“. Und er gehörte zu den Pionieren des Tonfilms, Jan Kiepura machte den Spoliansky-Titelsong des Streifens „Lied einer Nacht“ zum Welthit.

Dieser genialische Schmachtfetzen erklingt zum Beginn des Abends, den die Geschwister Pfister dem vergessenen Komponisten nun an der Komischen Oper widmen. „Heute Nacht oder nie“ heißt der, ebenso wie der Schlager, der in englischer Übersetzung von einer alten Schellack-Platte über die Lautsprecher in den dunklen Saal knistert.

Wenn langsam das Licht hochgedimmt wird und das auf der Vorderbühne platzierte Orchester erkennbar wird, lässt Dirigent Kai Tietje die Musiker ganz sanft zum Titel „Where Flamingos Fly“ hinüber gleiten. 1947 ist dieser Titel entstanden, in Großbritannien, wo der berühmte Flüchtling Mischa Spoliansky nach 1933 mit offenen Armen empfangen und bald eingebürgert wurde. 100 Soundtracks hat er dort noch geschrieben, ehe er 1985 im Alter von 86 Jahren, in seiner Londoner Wohnung starb.

Bei ihrer ersten Produktion an der Komischen Oper, Nico Dostals Operette „Clivia“ hatten die Geschwister Pfister und ihr Lieblingsregisseur Stefan Huber die ganz große Glamour-Show abgezogen, eine Kitsch-Orgie gefeiert, die das Publikum zum Rasen brachte. Jetzt begnügen sie sich mit der kleinen Spielfläche vor dem Eisernen Vorhang und verzichten sogar auf jegliches Bühnenbild. Denn Huber und die Pfisters wollen diesmal etwas ganz anderes. Die Atmosphäre kurz vor dem schmählichen Ende der Weimarer Republik heraufbeschwören nämlich, die letzten Zuckungen von Demokratie und ihren entfesselten Amüsierbetrieb zeigen.

Mit der Brecht-Stange

Dieser komplexe Zugriff geht weit über den sonstigen Unterhaltungsanspruch der Truppe hinaus, erinnert an die legendären Epochen-Revuen der Ära Helmut Baumann am Theater des Westens. Und will auch deutlich mehr, als einst Mischa Spoliansky. Eleganz war ihm und seinem Librettisten Marcellus Schiffer bei ihren Gesellschaftssatiren ebenso wichtig wie frecher Wortwitz. Wenn zeitgenössische Kritiker von „bester Unterhaltung für gut angezogene Menschen“ sprachen, empfanden sie das durchaus als Lob.

Die Pfisters greifen dagegen zur Brecht-Stange, schauen hinter die Kulissen der Glitzerstadt Berlin – und entdecken da die Bildwelten von Heinrich Zille und George Grosz, Proletenpoesie und expressionistische Scharfkantigkeit. Wie bei Otto Dix abgeschaut wirken die Kostüme von Heike Seidler, Tobias Bonn schwankt als ekelhaft dicker, dauerschwitzender „Bonze“ über die Bühne, Andreja Schneider trägt stolz ihr „Huren“-Outfit zur Schau, Morgenmantel und Spitzenwäsche zu grün gefärbten Locken. Und Christoph Marti, sonst als süßer Ursli der Schwarm aller Frauen und vieler Männer, wirkt erschreckend dämonisch als „Lesbe“. Zwar spannen sich die Muskeln beeindruckend unterm schwarzen Samtkleid, dazu werden stramme Waden von den ikonografischen roten Strümpfen umspannt – aber wie herb, wie verhärmt erscheint dieses überschminkte Gesicht unter der Wasserwelle!

Mit spitzer Feder gezeichnet sind auch die übrigen Figuren, die auf den beiden Podesten zwischen den Musikern den ganzen, 75 Minuten kurzen Abend auf der Szene präsent bleiben, sich oft die Melodien untereinander weiterreichen. Stefan Kurt wird als zunächst ärmelschonersteifer „Beamter“ von Nummer zu Nummer mutiger, Christoph Späth gibt kodderschnauzig den „Taxichauffeur“, Mirka Wagner lässt sich als „Fräulein“ nur zu gerne von ihrem stimmprächtigen „Provinzler“ Johannes Dunz anschmachten. Glatte, lackierte Schönheit nach üblicher Revue-Art repräsentieren allein die vier Tänzerinnen, die mal als Serviermamsells, mal als Revuegirls mit Strahlelächeln über die Bretter wirbeln, wohltuende Kontrapunkte in diesem schonungslos authentischen Zeitpanorama.

Dass die ganze, anspruchsvolle Chose nicht deprimierend wird, ist Spolianskys Musik zu verdanken, die eklektisch in allen nur erdenklichen Genres wildert, ob Arbeitermoritat oder Salonwalzer, ob „Mit dir möcht’ ich mal auf der Avus Tango tanzen“, Foxtrott oder Liebeslied. Ebenso stilistisch-schillernd hat Kai Tietje seine Orchester-Arrangements angelegt, charmant und frech, hier sehnsuchtsvoll aufrauschend, dort knackig-jazzig. So klingt der Kapitalismus, wo man einfach mitmuss.

Vorstellungen wieder am 9.4., 23.6. und 4.7.

Zur Startseite