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Staub der Jahrhunderte. Auf der Manifesta 12 ist auch diese Videoinstallation des Künstlerkollektivs Masbedo im alten Staatsarchiv von Palermo zu sehen.

© Lena Klimkeit/dpa

Die Manifesta in Palermo: Sizilien sehen und leben

Zeichen des Neubeginns, wider den Zerfall: Die europäische Wanderbiennale Manifesta verwandelt die sizilianische Hauptstadt Palermo.

Ein meterhoher Berg aus aufgehäuftem Salz erhebt sich auf dem abstrakt gemusterten Marmorboden mitten im großen Saal des Palazzo Forcella de Seta. Dessen Fenster gehen aus dem kühlen Halbdunkel raus zum strahlenden, lichtblauen Mittelmeer. Das passt nur zu gut, denn die Installation der niederländischen Künstlerin Patricia Kaersenhout erinnert an jene karibische Sklavenlegende, nach der die Verschleppten auf ihrem Weg über den Atlantik kein Salz essen sollten, damit sie leichter würden und nach ihrem Tod zurück nach Afrika fliegen könnten. Über das Meer da draußen vor Palermos historischen Stadtmauern, an die der Palazzo Forcella grenzt, kommen auch heute noch Boote, wieder gepackt voll mit Menschen, die jedoch unter einem ganz anderen Zwang ihr Land verlassen – in der vagen Hoffnung, ein besseres Leben in Europa beginnen zu können. Auch sie haben den Tod vor Augen, wenn sie sich freiwillig-unfreiwillig auf die Reise begeben.

Mit den Flüchtenden setzt die Manifesta 12 ihr großes Thema. Palermo, das ist die Stadt der Migration. Afrikas Küste befindet sich in greifbarer Nähe, der Hafen ist in den letzten Jahren für viele zur ersten Anlaufstelle geworden. Am Kai standen dann häufig nicht nur die Vertreter von Hilfsorganisationen, sondern auch der Bürgermeister Leoluca Orlanda, um sie persönlich zu begrüßen. Für ihn gilt die Reisefreiheit als ein Menschenrecht. Damit hat sich der populäre Politiker, der inzwischen zum vierten Mal ins Amt gewählt wurde, nicht nur Freunde gemacht, jedoch international großen Respekt verschafft.

Leoluca, der Löwe, wie sie ihn hier nennen, hat auch die Manifesta, die europäische Wanderbiennale, in die Stadt geholt, die unter anderem im Forcella einen Schauplatz hat, wo der Salzberg zu besichtigen ist. Mit Kultur gedenkt Leoloca Orlanda seinen politischen Kampf zu gewinnen, auch gegen die Mafia. „Früher glaubte man, die Wirtschaft produziere Kultur, heute ist es umgekehrt,“ ruft er bei der Pressekonferenz in der Chiesa Santa Caterina aus. Am nächsten Tag, bei der offiziellen Eröffnung im arabischen Stadtviertel Kalsa, wo die Manifesta im eigens sanierten Teatro Garibaldi ihre Zentrale hat, wird er an den 1992 durch die Mafia ermordeten Staatsanwalt Giovanni Falcone erinnern, als dessen Erbe er sich versteht. Mit Palermo ist die vor einem Vierteljahrhundert ins Leben gerufene Manifesta wieder bei sich selbst angekommen: im besten Fall als Katalysator gesellschaftlicher Veränderungen.

Mit Salz gegen die Schmerzen der Vergangenheit

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gegründet, um Fragen eines neuen Europas vor allem im plötzlich erweiterten Osten zu klären, ist die Wanderbiennale nun dort gelandet, wo die Probleme aktuell am brennendsten sind. Neben Immigration und Mafia gehören dazu die Klimaveränderung. Die Hitze des Mezzogiorno, die bröckelnde Grandezza der grandiosen Stadt, die Bauruinen der Neuzeit, das Schicksal der Ankömmlinge aus Afrika macht die Dringlichkeit der Suche nach Lösungen evident. Die letzte Ausgabe der Manifesta im geleckten Zürich mit seinen Luxusproblemen wirkt dadurch nachträglich noch grotesker. Von dort sind vor allem Installationen in teuren Uhrengeschäften und schicken Hotels in Erinnerung.Von Palermo wird es ein hoffnungsvoller Aufbruch vor eindrucksvoller Kulisse sein, mancherorts allerdings gepaart mit einer allzu naiven Heilsvorstellung von Kunst. So lädt Patricia Kaersenhout mit ihrer ansonsten starken Installation allen Ernstes dazu ein, eine Tüte Salz mitzunehmen und zu Hause in Wasser diffundieren zu lassen – „als Symbol, um die Schmerzen der Vergangenheit aufzulösen“.

Doch Esoterik gehört glücklicherweise gerade nicht zu den herausragenden Merkmalen dieser Manifesta. Sie will diesmal etwas bewegen, nachhaltig wirken. Das begann schon im Vorfeld mit der Erstellung eines „Palermo Atlas“, einer urbanistischen Studie, die als Grundlage für die Stadtentwicklung Landkarten, Daten zu Flüchtlingsströmen, Bewohnerzahlen, Historie erfasst. Und setzt sich damit fort, dass der Stadt selbst mit der Kunst größte Aufmerksamkeit gewidmet wird. Anders als die Documenta in Athen, die gezielt die gebeutelten Institutionen als Standort wählte, um sie zu unterstützen und dadurch wie ein Ufo wirkte, geht die Manifesta gezielt in Palermos ruinöse Kirchen, sonst unzugängliche Palazzi, verwucherte Gärten und auf desolate Plätze, ja sogar ins städtische Archiv, wo der Staub von Jahrhunderten auf den modernden Akten liegt. Die Geschichte der Stadt und die Kunst der Gegenwart verschmelzen zu einem großen Narrativ des Neubeginns.

Der Titel für diese hoffnungsvolle Erzählung lautet „Der Planetarische Garten. Koexistenz kultivieren“ in Anlehnung an den französischen Landschaftsarchitekten Gilles Clément. In Palermo gibt es einen solchen visionären Garten tatsächlich mit dem 1789 angelegten Orto Botanico am Rande des Kalsa-Viertels, wo Pflanzen aus der ganzen Welt nebeneinander gedeihen. Das ist auch das Credo der Palermitaner, die Griechen, Araber, Normannen, Staufer, Franzosen in ihrer Stadt erlebten, Elemente der jeweils importierten Kultur übernahmen und sich doch treu blieben. Ein mögliches Bild für das heutige Miteinander entwickelt Leone Contini, der in einem Beet des botanischen Gartens aus Samen, die von chinesischen, senegalesischen, indischen Einwanderern mitgebracht wurden, ein grünes Gehege angelegt hat.

Doch das Palermo der Manifesta ist nicht nur ein schönes Utopia, wo Menschen und Pflanzen einvernehmlich gedeihen könnten, sondern auch ein Ort, an dem neue Formen der Aufrüstung sichtbar werden. Nahe Niscemi im Südosten Siziliens haben die Vereinigten Staaten inmitten eines der letzten Korkwälder gigantische Parabol-Antennen installiert, mit deren Hilfe die US-Armee Drohnen entsenden und kontrollieren kann. Vom Widerstand der Bewohner Niscemis gegen das „Mobile User Objective System“ (MUOS) berichtet eine Installation der kubanischen Künstlerin Tania Brugera. Ihre Malerei auf den Wänden des Palazzo Ajuntamichristo verbindet sich mit Fotografien einer vergeblich versuchten Besetzung durch die Demonstranten. In einer Vitrine liegt die Urkunde des Aachener Friedenspreises aus, der im vergangenen Jahr der Bewegung „No MUOS“ für ihren Mut verliehen wurde. Auch die Dokumentarfilmerin Laura Poitras widmet sich diesem Thema mit ihrer Installation „Signal Flow“.

Die Kunst triumphiert über die Mafia

Diese Manifesta ist emotional, kühl recherchierend, Partei ergreifend und dadurch so mitreißend. Wohl niemanden lässt das Video „Liquid Traces“ der vor sieben Jahren in London gegründeten Künstlergruppe „Forensic Oceanography“ kalt. Mit farbigen digitalen Linien rekonstruiert es die Geschichte vom nächtlichen Untergang eines durch ein Militärschiff der NATO gerammten Flüchtlingsbootes. Kurz nach der Havarie versuchten alarmierte Fischer die Gekenterten noch an Bord zu holen, für die meisten zu spät. Der Ire John Gerrard schuf mit seiner Simulation jenes Seitenstreifens der österreichischen Autobahn nahe Parndorf, an dem Fluchthelfer einen Lkw mit 81 erstickten Geflüchteten einfach stehen ließen, ein virtuelles Porträt dieses Ortes, so wie es an jenem 27. August vor drei Jahren dort gewesen sein könnte – nur ohne Autos. Die Stille ist Ohren betäubend.

Wer die Manifesta besuchen kommt, der braucht nicht mehr überzeugt zu werden, dass hier Unrecht geschieht, dass den Menschen zu helfen ist, die unter dramatischen Umständen nach Europa gelangen. Diese Ausgabe aber versucht konkret vor Ort Strukturen aufzuzeigen, Möglichkeiten der Veränderung. Der Architekt Roberto Collovà hat da schon lange eine Idee. Seit 20 Jahren erstellt der 75-Jährige im Eigenauftrag eine Kartografie seiner Heimatstadt. Sein Augenmerk hat er auf verborgene wie öffentliche Gärten gerichtet, die sich zu einem einzigen großen Park zusammenfassen ließen.

Im bröckelnden Palazzo Costatino, nur wenige Schritte von den Quattro Canti entfernt, der zentralen Kreuzung Palermos, hat Collovà seine Fotos, Karten, topografischen Reliefs und Funde wie Knochenreste, zerbrochene Kacheln, Kalksteine ausgebreitet. Gleich nebenan lässt sich ein Blick auf die wie durch ein Wunder erhaltenen barocken Deckengemälde erhaschen. In diesem pittoresken Ambiente erläutert der Architekt den Besuchern seinen „Giardino di giardini“, der auch jenen kontaminierten Küstenstreifen direkt vor den Toren Palermos einbezieht, der nach 1945 entstand. Nach den alliierten Flugangriffen wurden hier die Bombentrümmer einfach ins Meer gekippt, ebenso der Schutt späterer Abrisse. So sollte vom Bahnhof quer durch das Kalsa-Viertel bis zum Hafen eigentlich eine Trasse gelegt werden, die Mafia verdiente hervorragend an den Abbrucharbeiten. Danach erlahmte das öffentliche Interesse an dem Projekt.

Noch heute stehen die Mauerstümpfe der platt gemachten Nachbarschaft, in einem der Häuser lebte einst die Familie des Mafia-Jägers Falcone. Eine Schautafel erinnert daran. Dass die Kunst hier nun triumphiert, wird als Zeichen der Überwindung alter Mafia-Zeiten gewertet. In den erhalten gebliebenen Gassen, bis vor wenigen Jahren noch ein Armenviertel, haben sich nun Bars und Hostels niedergelassen, Co-Working-Spaces entstehen, aus dem Norden kommen die ersten Käufer sanierter Immobilien. Eine zukünftige Manifesta dürfte die Gentrifizierung zum Thema haben. Das Motto der aktuellen Ausgabe, „Koexistenz kultivieren“ erweist sich auch dafür als visionär.

Manifesta 12, Palermo, bis 4.11., mehr Infos unter: http://m12.manifesta.org

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