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Den Wörtern auf den Grund gehen: Die Lyrikerin Barbara Köhler, 1959-2021

© P. Seeger/ picture alliance / dpa

Die Lyrikerin Barbara Köhler ist gestorben: Vokabeln fabeln

Mit der Sprache reden, selbst wenn diese nicht immer gleich antwortet: Zum Tod der großen Lyrikerin Barbara Köhler.

„Im Mundraum im Sprachraum sind wir Gefangene", hat Barbara Köhler einmal geschrieben und damit nicht nur ein poetologisches Bekenntnis formuliert, sondern auch eine biografische Erfahrung. Aufgrund einer Kehlkopfoperation hatte sie die Versehrung der Stimme erlebt, eine „Atemwende“ (Paul Celan) im krass physischen Sinn.

In Anlehnung an die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins hat sich die 1959 im sächsischen Burgstädt geborene Dichterin und Multimediakünstlerin schon in ihren frühen Texten mit den Grenzen der Sprache und auch den Bedingungen weiblichen Sprechens auseinandergesetzt.

Berühmt wurde sie mit einem Gedicht, das in Lesebüchern und Lyrik-Anthologien als herausragendes Beispiel für eine Dichtung der Wendezeit präsentiert wird, weil es das Lebensgefühl einer skeptisch und haltlos gewordenen Generation im moribunden DDR-Sozialismus auf den Punkt bringt.

"Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie"

Es ist das Gedicht „Rondeau Allemagne“, das erstmals 1991 in Köhlers Debütband „Deutsches Roulette“ erschien und ein Gefühl der Entfremdung formuliert: „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd, / Mit einer Liebe, die mich über Grenzen treibt, / Zwischen den Himmeln. Sehe jeder, wo er bleibt; / Ich harre aus im Land und geh ihm fremd.“

Nach ihrem Studium am Leipziger Literaturinstitut begann die Autorin in den späten neunziger Jahren mit Texten im Raum, mit Sprach- und Videoinstallationen zu arbeiten. Seit ihrem zweiten Gedichtbuch „Blue Box“ (1995) ist ihre Dichtung zudem eng mit dem Medium der Fotografie und der Bildenden Kunst verbunden; ihr mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichneter Band „Istanbul, zusehends“ verbindet Gedichte mit Fotografien und einem großartigen Essay.

Hinzu kommt schon früh die obsessive Reflexion auf die Möglichkeiten und vor allem die Grenzen der Sprache.

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In einer Anekdote in ihrem 2012 publizierten Band „Neufundland“ spricht sie von ihrer Leidenschaft der Wörter-Recherche. Die Chiffre dafür lautet: „Vokabeln fabeln“. Und das meint: Akribisch den Wörtern und Vokabeln auf den Grund gehen, der Herkunftsgeschichte der Wörter und ihren Klangspuren folgen, sie aus den Kontexten automatisierter Rede lösen, sie von Stereotypien entkernen – und zwar mit Hilfe etymologischer Fallgeschichten.

Im Auftaktgedicht ihres Bandes „Blue box“ heißt es vielsagend: „Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie. Manchmal antwortet auch jemand anders.“ Das hat die vielfach ausgezeichnete Dichterin ihr Leben lang getan – auch als kenntnisreiche Poetik-Dozentin, etwa 2012 während ihrer Thomas Kling-Dozentur.

In ihrem Hauptwerk „Niemands Frau“, den „Gesängen zur Odyssee“ (2007) stellt sie die Frage nach dem Ort weiblicher Subjektivität in der Literatur- und Kulturgeschichte und nach den Geschlechterverhältnissen in der Sprache.

Köhler lieferte einen Gedichtneuentwurf für die Alice-Salomon-Schule

Wenn in der traditionellen Interpretation des homerischen Epos „Frauen sang- und klanglos verschwanden“, wie Köhler in ihrem Nachwort zu „Niemands Frau“ anmerkt, so bestimmen nun Kirke, Nausikaa, Skylla, Kalypso und Penelope ihren Ort neu. Was bleibt, ist ein poetisches „Polymorphem“, also die Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit der Akteure und Stimmen. Poesie und Sprachtheorie fallen bei dieser Dichterin immer zusammen.

In „Neufundland“, einer Sammlung von vermischten Schriften, hat Köhler ihr Schreibideal noch einmal präzisiert: Es geht um „den Tanz der Stimme jenseits aller Feststellungen – Sprache, die bewegt wird, bewegt“. Als 2017 nach Sexismus-Vorwürfen und einer erbitterten Debatte das Eugen-Gomringer-Gedicht „avenidas“ von der Fassade der Berliner Alice- Salomon-Hochschule entfernt werden sollte, meldete sich Köhler mit dem Hinweis, dass ein Gedicht eine neue Bedeutung erlange, wenn es im öffentlichen Raum und im Straßenbild auftaucht.

Nach einem Beschluss der Hochschulleitung, die Fassade alle fünf Jahre mit einer neuen Text zu bemalen, lieferte Köhler den ersten Neuentwurf. Unter den blassen Buchstaben ihres eigenen Gedichts schimmerten die Wörter des „avenidas“-Gedichts noch durch. Das Neue löschte also das umstrittene Alte nicht. Barbara Köhler litt danach lange unter den Torturen einer Krebserkrankung; am 8. Januar ist sie im Alter von 61 Jahren gestorben.

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